Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2017

Spalte:

343-344

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Albertz, Rainer

Titel/Untertitel:

Exodus 19–40.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2015. 392 S. = Zürcher Bibelkommentare AT, 2.2. Kart. EUR 54,00. ISBN 978-3-290-17834-5.

Rezensent:

Wolfgang Oswald

Mit dem jetzt vorgelegten zweiten Band zu Ex 19–40 hat Rainer Albertz seine Kommentierung des Exodusbuches abgeschlossen. Die Anlage des zweiten Bandes entspricht weitgehend der des ersten, lediglich das literargeschichtliche Modell wurde etwas verfeinert. Dieses Modell, das elf sukzessive Bearbeitungen vorsieht, wird in der Einleitung anhand von Überblickstabellen gut verständlich dargestellt. Es handelt sich um ein Ergänzungsmodell, d. h. eine Grundkomposition wurde mehrfach erweitert.
Diese Grundkomposition, genannt »Exoduskomposition« (KEX), erstreckt sich nach A. von Ex 1,9 bis 34,32 und umfasst große Teile des nichtpriesterlichen Textbestandes des Exodusbuches. Insbesondere ist hervorzuheben, dass zu dieser ersten Komposition bereits sowohl der Dekalog (außer dem Sabbatgebot) als auch das Bundesbuch (mit Ausnahme von ganz wenigen späteren Erweiterungen) gehören. A. rechnet überdies mit einer der KEX bereitsvorliegenden »Gottesberg-Bundesbuch-Erzählung«, welche die Ge­setzgebung zum Gegenstand hatte und mit der Zustimmung des Volkes Ex 24,3–4aα ihr Ziel fand. Eine Gottesbergerzählung ohne Gesetzgebung hat es demnach nie gegeben, die Verbindung von Erzählung und Gesetz gehört an den Anfang und nicht an das Ende der Literargeschichte. Die Exoduskomposition sei um 540 v. Chr. verfasst worden, und zwar als Antwort auf die Frage der damaligen Ersthörer, »wie ihre zerbrochene Geschichte mit Jhwh nach der Exilskatastrophe überhaupt noch weitergehen konnte« (11). Doch ist das Gesetz nicht das letzte Wort dieser Antwort, sondern die Zusage der bleibenden Gegenwart Gottes nach dem Bundesbruch des »Goldenen Kalbes«. Diese Gottesgegenwart wird im glänzenden Gesicht Moses anschaulich. Mit Ex 34,28–32 (ohne 29a β) endet die KEX, die darüber hinaus »keinerlei Fortsetzung« (11) verlange.
Ein ähnliches Modell bringt A. auch im priesterlichen Textbereich zur Anwendung. Eine priesterliche Grundschrift nach Maßgabe der Urkundenhypothese gibt es nicht, an ihre Stelle tritt eine Reihe von priesterlichen Bearbeitungen der KEX. Der erste priesterliche Bearbeiter PB1 hatte danach drei Vorlagen, zum einen die KEX, zum andern zwei Vorlagen aus seiner eigenen priesterlichen Tradition. Letztere sind in Ex 25,10–27,19* und in Ex 30* zu finden und bilden den ältesten Bestand der Heiligtumstexte. PB1 stamme aus dem letzten Drittel des 6. Jh.s, »als der Zweite Tempel geplant und gebaut wurde« (11).
Die Literargeschichte des Exodusbuches endet nach A. mit drei chronistischen Ergänzungen, die er in Ex 19,11b–13a.17b.20–25 (Ab­sperrung des Sinai) und in der Leviteneinsetzung 32,26–29 identifiziert. – Nun zur Auslegung einiger markanter Texte:
– Der Dekalog sei eine zunächst eigenständige Kleinkomposition aus der Zeit von König Manasse gewesen, mit dem Schüler des Propheten Hosea »jedem einzelnen Judäer die grundlegenden religiösen und ethischen Normen […] vermitteln wollten« (53).
– Das Bundesbuch stamme aus der Zeit um 700 v. Chr. und stelle eine umfassende Reformgesetzgebung dar, die zum einen der »bessere(n) Kontrolle des Jhwh-Kultes« (76) dienen sollte, und zum andern der Absicherung der ärmeren Bevölkerungsgruppen (86).
– Die priesterlichen Heiligtumstexte seien eine »kritische Revision« (24) des Salomonischen Tempels, ja, »ein ideales Gegenkonzept zum Jerusalemer Staatstempel der vorexilischen Epoche« (380), mit dem eine perserzeitliche Reformpriesterschaft das Programm einer »unmittelbaren Begegnung zwischen Jhwh und Israel« (227) formulierte.
– Die Abweichungen in der Abfolge einiger Elemente zwischen dem Anweisungs- und dem Ausführungsteil der Heiligtumstexte des masoretischen Textes beruhten auf der Integration von »divergierenden Vorlagen« (330). Die Abweichungen in der Abfolge einiger Elemente zwischen dem hebräischen und dem griechischen Ausführungsteil beruhten auf »mechanischen Textbeschädigungen innerhalb der griechischen Überlieferung (344).
– Das auswärtige Zelt Ex 33,7–11 gehöre in die nachpriesterliche, spätdeuteronomistische Bearbeitungsschicht D. Daher sei das auswärtige Zelt als bewusster Gegenentwurf zum priesterlichen Zeltheiligtum zu verstehen, da es ohne priesterliches Personal auskommt.
– Die Bundesworte Ex 34,11–27, früher als sogenannter »kultischer Dekalog« in die Frühzeit Israels datiert, seien Teil der sehr späten, sogenannten Mal’akh-Bearbeitung, also jener Schicht, die auch den Anhang des Bundesbuches 23,23–33 eingebracht hat. Diese »Gebotspredigt« sei ein synthetisches Gebilde, das neben dem Bundesbuch »weitere Gesetzespartien des Pentateuchs« (316) aufgreife und in nachexilischer Zeit neu ausdeute.
Die fortlaufende Kommentierung wird immer wieder durch informative Exkurse unterbrochen. Einer dieser Exkurse widmet sich etwa der Frage, warum das Zeltheiligtum einerseits als miškān (»Wohnung«), andrerseits als ʾohæl môʿed (»Zelt der Begegnung«) bezeichnet wird. Nach A. kommen hier nicht zwei verschiedene Konzeptionen oder gar zwei verschiedene Zelte zum Vorschein, die, wie in der Forschung oft geschehen, literar- oder traditionsgeschichtlich separiert werden könnten. Vielmehr bezeichneten miškān eher die bauliche Struktur undʾohæl môʿed eher die Funktion ein und desselben Heiligtums. Das ist sehr plausibel, allenfalls wäre zu überlegen, ob môʿed, das eigentlich »Termin« oder »Treffpunkt« heißt, mit »Begegnung« gut übersetzt ist.
Bemerkenswert ist, dass die Kommentierung des Ausführungsberichtes der Heiligtumstexte (Ex 35–40) vergleichsweise ausführlich geraten ist, d. h. A. zieht aus der Unrichtigkeit des Wellhausenschen Diktums, wonach Ex 35–40 eine »bloße« bzw. »mechanische« Wiederholung des Anweisungsteils sei (341), die notwendige Konsequenz und widmet Ex 35–40 den diesen Kapiteln gebührenden Raum.
Der Kommentar unternimmt es, die Literargeschichte des Exodusbuches Schritt für Schritt mit der Geschichte Judas von der Zeit König Hiskias bis in die spätpersische Zeit zu korrelieren. Dabei entsteht vor den Augen der Leser ein lebendiges Wechselspiel von sich wandelnden gesellschaftlichen Problemstellungen und je­weils darauf reagierenden Lösungsvorschlägen. Diese Art der Auslegung entgeht der Gefahr, die Textproduktion ausschließlich oder auch nur überwiegend in individuellen theologischen Gedankenspielen zu verorten, sondern trägt der allenthalben mit den Händen zu greifenden gesellschaftlichen Bezogenheit dieser Texte Rech­ nung. Nicht jede dieser Korrelationen wird ungeteilte Zu­stim­mung finden, in jedem Fall aber wird sich die weitere Arbeit am Exodusbuch mit A.s Auslegungen auseinandersetzen müssen.
Ein Nachgedanke: Die ersten neun Überschriften zu den Ab­schnitten des Kommentars von Ex 19 bis Ex 31 enthalten alle den Begriff »Offenbarung«. Nun hat A. in seinem THAT-Artikel glh schon vor vielen Jahren das komplizierte Verhältnis des Begriffs »Offenbarung« zur Verbalwurzel glh dargelegt. Gleichwohl oder gerade deshalb sei die Frage angeschlossen, ob es sich bei Gebots- bzw. Gesetzesmitteilungen nach alttestamentlichem Verständnis um Offenbarungen handelt.