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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

154–156

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Striet, Magnus [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

»Nicht außerhalb der Welt«. Theologie und Soziologie.

Verlag:

Freiburg. i. Br.: Verlag Herder 2014. 207 S. = Katholizismus im Umbruch, 1. Kart. EUR 19,99. ISBN 978-3-451-33271-5.

Rezensent:

Hartmann Tyrell

Der Sammelband erscheint als Band 1 einer neuen Reihe, die den Titel Katholizismus im Umbruch trägt und »ein neues Forum theologischer Reflexion in den Selbstvergewisserungsbemühungen kirchlicher Überlieferungsströme« etablieren will; Reihenherausgeber sind Stephan Goertz und Magnus Striet. Eine beunruhigende Art von »Ungleichzeitigkeit« ist es, auf die die Herausgeber die theologische Reflexion verstärkt gerichtet sehen wollen: die zwischen der wesentlich durch das 19. Jh. geprägten institutionellen Gestalt der römisch-katholischen Kirche hier und einem kulturell immer selbstverständlicher gewordenen »Modernitätsbewusstsein«, wie es sich heute »schlagwortartig im Begriff des Rechts auf individuelle Selbstbestimmung fokussieren lässt«, dort (7 f.). Man braucht dafür nur auf das Geschlechterverhältnis, auf »die Rolle der Frau« »in Theologie und Kirche« zu blicken (vgl. den Beitrag von Johanna Rahner, 181 ff.).
Es ist ganz so die anhaltende Spannung zwischen einer Kirche, der der Antimodernismus noch im Leibe steckt, und der Moderne, die den vorliegenden Band ediert, thematisch bestimmt. Nun ist die Rede von »der Moderne« aber schon um des Singulars willen, mit dem sie auftritt, nicht problemlos zu haben. Vor allem auch ist »die Moderne« kein Begriff mit einem Stammplatz im theologischen Denken. Magnus Striet löst dieses Problem durch interdisziplinäre Kontaktaufnahme. Er hält sich an jene vergleichsweise junge Disziplin, die sich ihm als mit der Moderne liiert, nämlich mit der Moderne entstanden und in besonderer Weise modernitätsgeprägt und -befasst, darstellt: die Soziologie (13 ff.). Und Striet geht noch weiter: Mit Nachdruck nimmt er einen Gedanken von Michael N. Ebertz auf und plädiert für einen (neuerlichen) theologischen turn: für eine »Wendung hin zur Soziologie« (15). Man wird nicht sagen können, dass das in dem vorliegenden Band schon sichtbar in Gang gekommen ist. Immerhin aber ist in Gestalt von sieben Beiträgen doch ein (schlanker) Band zustande gekommen, der Theologen und Soziologen modernitätsbezogen im Gespräch miteinander zeigt: die Theologen dabei stärker auf den kirchlichen Antimodernismus blickend, die Soziologen vor allem mit den Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen der Moderne befasst.
Hier ist zunächst ein Wort nötig zur Eignung der Soziologie als Gesprächspartner der Theologie. Hier mag es genügen zu sagen: Die Soziologie ist ohne den Begriff der ›modernen Gesellschaft‹ nicht gut zu denken, auch nicht ohne das Bewusstsein von der internen Komplexität und Dynamik moderner Gesellschaft, und da, wo es spezifisch um innergesellschaftliche Ungleichzeitigkeiten, um Modernitätsinkompatibilität oder cultural lags geht, da darf das Fach sich angesprochen (und zuständig) fühlen. Andererseits aber: Die Soziologie ist ein ausgeprägt ›multiparadigmatisches‹ Fach, und das legt die Frage nahe: welche Soziologie denn? Aber auch wenn man das beiseite lässt, steht es um die Soziologie komplizierter, als Magnus Striet in seiner Einleitung meint (13 ff.). Mit anderen Worten: So willkommen gerade dem Religionssoziologen die theologische Kontaktofferte ist, so unvermeidlich ist, darauf hinzuweisen, dass die Soziologie vielleicht doch noch nicht ganz so beschaffen ist, wie es sich Striet erwartet. Ich beschränke mich auf zwei Gesichtspunkte.
1. Schon das fachhistorische Argument Striets, demzufolge die Soziologie (als »gewordene«) von ihrer »Geburtsstunde« an den Geist der Modernität gewissermaßen im Blute habe, ist zwiespältig. Zwar ist ganz unbestreitbar, dass die disziplinären Anfänge »mit einer tiefgreifenden Umwälzung des Selbstverständnisses von Gesellschaften« zusammenfallen. Aber es gibt, was im Fach weit-gehend vergessen ist, hier aber interessieren muss, gute Gründe dafür, dass gerade die (lange nachwirkenden) französischen Ur?sprünge der Soziologie zu einem maßgeblichen Teil nicht nur stark ordnungsbedürftig, sondern dezidiert konservativ, »gegenrevolutionär« bestimmt waren (de Bonald, de Maistre). Mehr noch: Sie gehören einem intellektuellen Milieu an, das dem traditionalistischen Schub des Katholizismus im 19. Jh. vorgearbeitet hat; es war Joseph de Maistre, dem sich der das Jahrhundert durchziehende Gedanke der päpstlichen Infallibilität verdankt. Aber natürlich ist das Wurzelwerk, das die Soziologie hat heranwachsen lassen, weit vielfältiger, und die schottisch-aufklärerischen Wurzeln etwa sind heute weit beliebter als die französisch-konservativen. Jedenfalls aber ist die Soziologie in geringerem Grade ein Kind der Aufklärung, als es Striet sympathisch ist.
2. Bezogen auf die sozialen Institutionen ist »das Bewusstsein des Gewordenseins«, wie es Striet gerade kirchenbezogen so sehr am Herzen liegt, zwar eines, das sich zumal mit dem soziologischen Kulturbegriff (vs. »Natur«) nachdrücklich verbindet (15 ff.). Aber die Soziologie ist dominant Gegenwartswissenschaft, und für den soziologischen Blick ist das »Gewordensein« der »sozialen Tatsachen« typisch nicht das, was sein Erkenntnisinteresse vorrangig leitet. Es ist der Historismus, dem Striets Anliegen am klarsten zu eigen ist; der aber hatte seine große Zeit um 1900, und das Problembewusstsein »historischer Kontingenz« ist seinerzeit gerade unter den Theologen von niemandem dringlicher artikuliert worden als von Ernst Troeltsch, dies aber eben nicht nur auf Freiheitsgewinne hin, sondern auch im besorgten Blick auf den schwankenden Untergrund, den die Moderne beschert.
Gerade die solcherart aufgenommene Historismusproblematik darf nun mit in Anspruch genommen werden für das, was soziologischerseits Franz-Xaver Kaufmann in seinem Beitrag unter dem Titel der »Ambivalenzen der Moderne« verhandelt (93 ff.). Die Kategorie der ›Ambivalenz‹, die der Debatte um die Postmoderne entstammt, wird von Kaufmann vor allem auf die unvermeidlichen Wertkonflikte der modernen Gegebenheit bezogen. Die Dissonanz der Werte zwingt zu Entscheidungen, und »je unmittelbarer« die Nötigung dazu, »desto stärker wird die Erfahrung der Ambivalenz« (100). Unter diesen Vorzeichen beobachtet Kaufmann dann im Weiteren den »Umgang der Kirche mit Wertkonflikten«, und überzeugend ist der Befund vor allem der einer »Überdehnung ihrer normativen Kompetenzen« (118).
Instruktiv ist auch der zweite soziologische Beitrag, dessen Autor Wolfgang Eßbach ist (33 ff.). Der Beitrag nimmt sich die Modernitätsbegrifflichkeit vor und zerlegt bzw. ordnet sie in vier verschiedene Problemkreise. Deren erster hat die Gegenwartsdiagnostik der Soziologie mit ihren vielen Bindestrichgesellschaften vom Typ »Risikogesellschaft« im Blick. Der zweite bezieht sich vielschichtig auf die auf die Moderne als Epochenbegriff.
Der dritte Problemkreis geht von der ›modernen Gesellschaft‹ aus und desaggregiert sie in soziale Felder oder Funktionszusammenhänge; es geht dann um die Modernisierung der verschiedenen Felder (der Politik, der Wirtschaft, Wissenschaft oder Religion) und dabei nicht zuletzt um Ungleichzeitigkeiten; als gesonderten Problemzusammenhang bringt Eßbach die Kultur ins Spiel. Der vierte Problemkreis bringt Legitimitätsfragen zur Sprache und spricht dabei auch »Modernitätskatastrophen« an (Archipel Gulag, Auschwitz, Hiroshima). Angesichts des undiszipliniert wu?chernden Redens von »der Moderne« und des Debattierens um »die Mo?derne« kann man die Eßbachsche Sortierleistung nur gutheißen und weiterempfehlen.
Damit zum katholischen Antimodernismus, dem Peter Neuner einen sehr lesenswerten Beitrag gewidmet hat (61 ff.). Hier wird man zunächst begriffs- und theologiegeschichtlich belehrt. Gesondert wird dann die tragische Geschichte des französischen Exegeten Alfred Loisy berichtet, dessen L’Évangile et l’Église (1902) eine katholisch-apologetische Reaktion auf Adolf von Harnacks Das Wesen des Christentums darstellte. Es war »das geschichtliche Denken« darin, das Loisys Darstellung der Entwicklung der Kirche in Rom unter Pius X. ›des Modernismus‹ verdächtig machte und das mitauslöste, was Neuner die »Modernismuskrise von 1907/1910« nennt. Was der Autor stark herausstellt, ist die römische Tendenz, den Modernismusbegriff bewusst unscharf zu handhaben, so dass er antimodernistisch nach Bedarf für alle möglichen Beschuldigungen einsetzbar war (63 f.). Der Beitrag von Stephan Goertz (»Relikte des Antimodernismus – oder: Von der Selbstfesselung katholischer Moral«, 121 ff.) schließt hier an. Er markiert zwar den Einschnitt, den das Konzil bezüglich des kirchlichen Antimodernismus bedeutete, sieht aber den Gegenwartskatholizimus dann ausgesprochen ambivalent und konzentriert sich als Moraltheologe auf die Fragen der Sexualmoral (130 ff.), die besonders drastisch für das katholische Ungleichzeitigkeitsdilemma steht.
Die kirchenbezogenen Beiträge des vorliegenden Bandes folgen sämtlich der eingangs skizzierten Beschreibung von der Abweichungsverstärkung zwischen der katholischen Kirche und der ihr zusetzenden Modernitätsbestimmtheit ihrer Umwelt und auch der eigenen Mitglieder. Die Beschreibung hat ihr soziologisches Recht. Es sind insbesondere die im Band vertretenen Theologen, denen die Modernitätsdefizite ihrer Kirche ein Stein des Anstoßes sind und die sich damit unvermeidlich als Teil eines innerkirchlichen Konflikts zu erkennen geben.
Einzig der noch unerwähnte Beitrag von Hans-Joachim Höhn (155 ff.) springt aus diesem konfliktträchtigen Schema heraus. Er hat, aus größerer Distanz, ausgesprochen stimulierende Beobachtungen und Argumente zur religiösen Lage der Gegenwart anzubieten.