Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

127–129

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Wüthrich, Matthias D.

Titel/Untertitel:

Raum Gottes. Ein systematisch-theologischer Versuch, Raum zu denken.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 558 S. = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 143. Geb. EUR 90,00. ISBN 978-3-525-56412-7.

Rezensent:

Martin Wendte

Dieses Buch ist die überarbeitete Habilitationsschrift des mittlerweile in Zürich lehrenden Systematikers Matthias Wüthrich. Das Ziel des Buches besteht darin, vor dem Hintergrund des gegenwärtig sich vollziehenden spatial turns wichtige Stationen der protestantischen Debatten um die Zuordnung von Gott, Ort und Raum aufzuarbeiten und angesichts des so aufgearbeiteten Problembewusstseins ein eigenes theologisches Raumverständnis in ekklesiologischer Zuspitzung vorzulegen. W.s Grundüberzeugung besagt, dass dafür nicht nur Gott angemessen gedacht werden muss, sondern vor allem, dass das Verständnis des Raumes selbst theologisch zu denken ist. W. denkt Raum dabei nach dem Modell von Beziehungen, nicht nach dem Containermodell, und innerhalb dieses Raummodells operiert er mit verschiedenen Raumverständnissen. Er verbindet den innertrinitarischen Raum Gottes – als eines Manifestationsaspektes des Beziehungsgefüges der drei Personen der Trinität – mit dem interpersonalen Raum der Begegnung Gottes mit den Menschen und der Menschen un?tereinander: In der Anrede Gottes werden Menschen durch den Geist in den Raum Gottes hineingenommen, und sie werden zu neuer Gemeinschaft untereinander verbunden. Diese Dimension der geglaubten, unsichtbaren Kirche vollzieht sich in ausgezeichneter Weise im sichtbaren, sozialen Raum der Kirche und somit in der ihr eigenen Räumlichkeit und verändert die dort existierenden Beziehungen.
W. entwickelt diese Überlegungen in dem konstruktiv-synthetisierenden fünften Teil des Buches. Im ersten Teil (27–90) rekonstruiert er wichtige Aspekte und Theoretiker des spatial turns. Von der Raumtheoretikerin Martina Löw übernimmt er u. a. die Idee des sozialen Raumes, von Thomas Fuchs den des interpersonalen Raumes. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass manche Beziehungen einen ihnen entsprechenden Raum allererst hervorbringen – so wie zwischen Liebenden ein phänomenologisch genau be?schreibbarer, eigener atmosphärischer Raum entstehen kann, von dem her sich die alltäglichen sozialen Räume neu konfigu-rieren.
Im zweiten Teil (91–171) wird vor Augen geführt, wie das Raumproblem in der gegenwärtigen Theologie behandelt wird. Teils wird der Raum durch die Zeit verdrängt (so bei Dietrich Ritschl), teils wird der Raum steil metaphorisiert (so bei Magdalena Frettlöh, McFague, Marquardt, Bergmann), teils wird ein profaner oder sehr abstrakter Raumbegriff angesetzt (so bei Dalferth, Evers, Torrance, Mühling, Heim, van den Brom u. a.), teils wird der gelebte Raum theologisiert (so in der wichtigen Arbeit von Ulrich Beuttler zum Thema, mit der sich W. immer wieder auseinandersetzt). Demgegenüber will W. einen explizit theologischen Raumbegriff entwickeln, der zugleich durch verschiedene Ebenen geprägt ist, welche nicht einlinig ineinander überführbar sind (siehe etwa 163 u. ö.).
Die eigenen Raumverständnisse sollen im Bewusstsein der »raumtheoretischen Konfliktzonen« (173) entwickelt werden, welche die protestantische Theologie seit der Reformation begleiten. Daher legt W. im dritten Teil (173–278) eine hochdifferenzierte Lesart des Streites zwischen Luther und seinen Gegnern um die Frage vor, wie Gott und der Ort zusammenzudenken sind: Ist der Himmel ein geographisch lokalisierbarer Ort oder ein Beziehungsgefüge? W. sieht in den späten Abendmahlsschriften Luthers in Ansätzen das Verständnis eines interpersonalen Raumes entstehen. In der Anrede im Abendmahl entsteht ein christologisch fundierter Begegnungsraum, von dem her Raum und Gemeinschaft neu ge?fasst werden. Der dritte Teil präsentiert danach die Positionen Calvins und schließlich Schleiermachers auf theologischer Seite, die von Newton, Descartes, Leibniz und Kant auf philosophischer.
Der vierte Teil (279–415) beschäftigt sich in teils detaillierten Lektüren mit den raumtheologischen Überlegungen von Tillich, Barth, Moltmann und Pannenberg und zeigt, wie diese aufeinander reagieren und zugleich gemeinsam die Herausforderung annehmen, die darin besteht, dass Kant Gott und den Raum (als Anschauungsform) vollständig voneinander trennt. Im abschließenden fünften Teil (417–519) entwickelt W. im Anschluss an Barth, Moltmann und Pannenberg seine eigene Position. Dabei bearbeitet er die von beiden herstammenden Problemüberhänge unter anderem dadurch, dass er vertieft auf die Philosophie Ernst Cassirers zurückgreift. Die theologische Adaption von Cassirers Philosophie der symbolischen Formen plausibilisiert das Grundanliegen dieser Arbeit, den Raum nicht weltanschaulich-religiös zu denken, sondern aus theologischer Perspektive.
W.s Buch stellt sowohl in der Rekonstruktion der protestantischen Position wie in der Entwicklung der eigenen Raumtheologie einen erheblichen Fortschritt gegenüber der bisherigen Debatte dar. Die historische Rekonstruktion besticht durch ausgesprochen sorgfältige, aufmerksame Lektüre der behandelten Autoren, so dass immer wieder auch in der Behandlung der einzelnen Autoren neue Einsichten erreicht werden (besonders bei der Rekonstruktion Luthers und Pannenbergs, aber auch bei der Barths). Zugleich werden diese historischen Einzelrekonstruktionen in ein übergreifendes Narrativ eingeordnet, und auch diese Einordnung ist ein Gewinn. So überzeugt W. mit seiner neuen Einsicht, dass die Entwicklung der immanenten Trinität als des Raumes Gottes, wie sie Barth und dann Moltmann und Pannenberg vorlegen, selbst als Antwort auf die neuzeitliche Frage, wo denn Gott zu verorten ist, gelesen werden sollte. W.s eigene Raumtheologie besticht zum einen dadurch, dass sie genau dies ist: eine explizit theologische Raumtheologie, die zugleich durch vielfältige Verweise zu anderen Diskursen plausibilisiert wird. Zudem überzeugt sie durch kategoriale Klarheit und Differenziertheit. Auch wird ihre Relevanz deutlich, indem W. mehrfach die Übergänge seiner Theorie zu den Fragen gelebter Religion markiert.
Gerade solch ein umfassendes und überzeugendes Buch lädt zu Rückfragen auf verschiedenen Ebenen ein. Zur Anlage des Buches: Auch wenn W. selbst nachvollziehbarerweise darauf verweist, dass er nicht auch noch vertieft auf naturwissenschaftliche oder neue philosophische Debatten um den Raumbegriff (nach Cassirer) eingehen konnte, so wären zumindest kurze Rekurse darauf von der Sache her dennoch wünschenswert gewesen. Zu den eigenen Raumverständnissen: Einige der Überlegungen des Schlussteils wie etwa die zur Ontologie und Erkennbarkeit des Raumes und zur inneren Verbindung seiner verschiedenen Raumverständnisse sind recht skizzenhaft; man ist gespannt, wie W. diese Fragen in Zukunft weiter bearbeitet. Schließlich zu einer theologischen Grundentscheidung: W. denkt den Raum in theologischer Hinsicht vom innertrinitarischen Gottesraum her und in kulturwissenschaftlich-philosophischer Hinsicht im Anschluss an Löw und Cassirer. Dadurch aber wird die eigene Räumlichkeit der Gotteserfahrung etwa in der Begegnung von Leibern im Raum der Kirche zwar benannt und bedacht, aber nicht eigentlich von diesen Ansätzen her entwickelt. Inkarnationstheologische Überlegungen hätten hier vielleicht eine Brücke bilden können, und es verwundert, dass diese Überlegungen bei einer Arbeit, die offenbarungstheologisch angelegt ist, ausgespart bleiben.
Diese kritischen Anmerkungen dürfen nicht vergessen lassen, dass das vorliegende, sehr gut lesbare, umsichtig argumentierende Buch einen Ausgangspunkt für alle weiteren theologischen Debatten um den Raum bilden soll, weil es die bisherigen Debatten hervorragend aufarbeitet und einen sehr bedenkenswerten eigenen Entwurf präsentiert.