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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1301–1302

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schramm, Steffen

Titel/Untertitel:

Kirche als Organisation gestalten. Kybernetische Analysen und Konzepte zu Struktur und Leitung evangelischer Landeskirchen. 2 Bde.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2015. 958 S. m. Abb. = Lenken. Leiten. Gestalten. Theologie und Ökonomie, 35. Kart. EUR 69,90. ISBN 978-3-643-12965-9.

Rezensent:

Christhard Ebert

Die hier zu behandelnde zweibändige und 904 Seiten starke Dissertation von Steffen Schramm wurde 2014 von der Kirchlichen Hochschule Wuppertal-Bethel angenommen. Ihr Autor ist Pfarrer der Evangelischen Kirche der Pfalz und seit 2004 Leiter des Instituts für kirchliche Fortbildung in Landau.
Sein Werk gehört in den Kontext der seit einigen Jahrzehnten anhaltenden theologischen Diskussion, ob und wie die Kirche als Organisation verstanden werden könne. Es geht aber weit darüber hinaus. Zum einen nimmt es ernst, dass es eine Interdependenz von kirchlichem Auftrag, handelnden Personen und organisationaler Verfasstheit gibt, zum anderen stellt es die Frage nach der Leistungsfähigkeit der Organisation Kirche im Blick auf ihren Auftrag und zum Dritten kommt damit die Frage nach der Leitung von Kirche in den Blick.
Die grundlegende These geht davon aus, dass die evangelischen Kirchen sich erst in den letzten 200 Jahren zur Organisation im modernen Sinn entwickelt haben, und zwar aufgrund programmatischer theologisch-kybernetischer Konzepte, die ihrerseits als Reaktion auf sich verändernde Umweltbedingungen verstanden werden können. Daraus ergeben sich die beiden zentralen Fragestellungen: Welche Strukturen helfen der Organisation Kirche am ehesten, in der Zukunft ihren Auftrag zu erfüllen? Und: Welche Konzepte braucht kirchliche Leitung, um den organisatorischen Strukturen zu entsprechen, den äußeren Herausforderungen ge­wachsen zu sein und den kirchlichen Auftrag erfüllen zu können? In fünf großen Schritten geht die Arbeit dabei diesen Fragen nach:
1. In den Vorüberlegungen werden eigentlich die zentralen theologischen und kybernetischen Entscheidungen für den Fortgang der Untersuchung getroffen. Auf der Basis eines dreifachen Kirchenbegriffs (nach Hans-Richard Reuter in Anlehnung an Albrecht Ritschl) von Glaubensgemeinschaft (congregatio fidelium, dogmatische Dimension), Handlungsgemeinschaft (communio sanctorum, ethische Dimension) und Rechtsgemeinschaft (organisatorische Dimension) werden die wesentlichen Dimensionen er­örtert. Die dogmatische Dimension umfasst den Grund der Kirche als creatura verbi, die Gestalt der Kirche als Leib Christi und ihre Bestimmung als vorläufiges Zeichen des Reiches Gottes – als eine, heilige, katholische und apostolische Kirche. Zur ethischen Di­mension gehört die Differenzierung zwischen dem darstellenden Handeln der Kirche (in Wort und Sakrament) und dem wirksamen Handeln (in Bildungs,- Gerechtigkeits- und Hilfehandeln). Der organisatorischen Dimension wird die Aufgabe zugewiesen, »das darstellende und wirkende Handeln der communio sanctorum zu ermöglichen und zu fördern, das sein inneres Maß an der congregatio fidelium findet« (33). In dies Muster werden dann weitere wesentliche Stichworte eingeflochten: Programm bzw. Politik, Struktur und Kultur – immer streng von »Grund, Gestalt und Bestimmung« her bestimmt und auf die Grundvollzüge (darstellendes und wirksames Handeln) bezogen. Auch kirchliche Leitung als Ermöglichung der Auftragserfüllung wird unter diesen Aspekten diskutiert. Auf diesem Hintergrund wird dann schließlich Ekklesiologie als Kirchenberatung entwickelt. So entsteht – auch unter Einbezug des St. Galler Management-Modells – ein heuris­tisch-mäeutisches Schema, das genug Kriterien für die nachfol-genden Analysen zur Beantwortung der zentralen Fragestellungen liefert.
2. Die WAR-Analyse identifiziert und beschreibt drei Phasen der kirchlichen Entwicklung: das vormoderne Parochialmodell bis Anfang des 19. Jh.s, das Personalgemeindemodell und ab Anfang des 20. Jh.s das neue Parochialmodell (Emil Sulze). Vor allem Letzteres wird sehr gründlich unter vielen Perspektiven analysiert. Die IST-Analyse widmet sich der Zeit etwa ab den 1960er Jahren und beschreibt die zunehmende funktionale Differenzierung kirchlichen Handelns und kirchlicher Struktur als kirchlicher »Nachbau« einer immer komplexer werdenden Gesellschaft.
3. Auf dem Hintergrund der Veränderungen der letzten 20 Jahre wird dann die Frage diskutiert, ob es reicht, die bestehenden Strukturen lediglich zu optimieren, oder ob sie erneuert werden müssten, um als kirchliche Organisation noch adäquat auf die kommenden Herausforderungen reagieren zu können. Die Antwort ist eindeutig: Die kirchlichen Organisationen auf allen Ebenen müssen den Weg aus der (nach F. Glasl beschriebenen organisationstheoretischen) Differenzierungsphase über die Integrationsphase in die Assoziationsphase nehmen.
4. Wie das aussehen kann, wird im zweiten Band mit einem SOLL-Konzept entwickelt. Für die Organisationsstruktur bedeutet das die Entwicklung zu einer auf Kooperation beruhenden, lebensweltorientierten und prozessgesteuerten Netzwerkkirche. Für die kirchliche Leitung bedeutet das den Weg von Verwaltung zur Ge­staltung mit Hilfe eines theologischen Managementmodells.
5. Der Abschnitt schließlich beschreibt Schritte einer Umsetzung.
Ein heuristisches ekklesiologisches Schema mit dem Ziel der Kirchenberatung zu entwickeln, ist dem Vf. gelungen, auch weil er dies Schema konsequent auf alle Analysen und Fragestellungen anwendet und dabei zu überzeugenden, weil einleuchtenden Antworten kommt. Dass die Umsetzung dieser Transformationsprozesse eine Generationenaufgabe ist und deshalb möglicherweise nicht rechtzeitig greift, ist dem Vf. genauso klar wie jedem, der in kirchlichen Entwicklungsprozessen beratend tätig ist – schließlich sind es letztendlich Menschen, die sich ändern müssen. Ekklesiologie als Kirchenberatung kann dabei eine wichtige Hilfe sein. Natürlich bleibt das Schema als solches inhaltlich blass – abgesehen von einigen praktischen Beispielen aus der pfälzischen Landeskirche (die im Übrigen mit der Ekklesiologie als Beratung ernst gemacht hat und dieses Jahr ein Entwicklungsprojekt startet, das viele Ideen des Vf.s aufnimmt: www.gemeinde-geht-weiter.de). Das Schema wirkt wie ein komplexes System leerer Bilderrahmen, die erst vor Ort und in praxi mit bemalten Leinwänden gefüllt werden. Das ist einerseits seine Stärke, weil es tatsächlich nicht deskriptiv und normativ arbeitet. Andererseits könnte es auch eine Schwäche sein, weil offen bleibt, wie das Wirken des Heiligen Geistes mit organisationalem und prozessualem Denken in Verbindung gebracht werden kann. Auch wenn diese Frage etwas neben dem Forschungsinteresse der Arbeit liegt, ist sie unverzichtbar bei der konkreten Ausgestaltung von Transformationsprozessen.
Die beiden Bände sind für ihre Leser eine gewisse Herausforderung – nicht nur durch die hohe Seitenanzahl. Auch der hohe Abstraktionsgrad und die vor allem im zweiten Band oft dichte »Managementsprache« machen es nicht einfacher – sachlogisch zwar völlig korrekt, aber eben doch nicht allen geläufig. Dazu kommen manche Redundanzen und bis zu sieben Gliederungsebenen, die den Lesenden zum häufigen Griff zum Inhaltsverzeichnis nötigen. Hilfreich allerdings sind die vielen schematischen Abbildungen, die einen schnellen Überblick erlauben. Tipp: Kapitel VI im zweiten Band zuerst lesen – dort gibt es eine Zusammenfassung auf nur 45 Seiten.