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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1295–1297

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hildenbrand, Katrin

Titel/Untertitel:

Leben in Pfarrhäusern. Zur Transformation einer protestantischen Lebensform.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2015. 320 S. m. 6 Abb. u. 7 Tab. = Praktische Theologie heute, 141. Kart. EUR 49,99. ISBN 978-3-17-029672-5.

Rezensent:

Gunther Schendel

Das evangelische Pfarrhaus ist wieder ein Thema. Das gilt spätes­tens seit der Pfarrhaus-Ausstellung »Leben nach Luther«, die 2013/ 14 im Deutschen Historischen Museum zu sehen war. Diese Ausstellung steht für ein neues öffentliches Interesse am Thema, während die Diskussion um die Pfarrhäuser vorher im Wesentlichen innerkirchlich geführt wurde. Im Mittelpunkt standen hier Fragen der Dienstwohnungspflicht, die Zulassung von Lebensformen jenseits der Ehe – und nicht zuletzt auch die Frage nach der weiteren Zukunft der Pfarrhäuser. Jetzt hat Katrin Hildenbrand eine Studie zu den evangelischen Pfarrhäusern vorgelegt, die die aktuellen Diskussionen hilfreich bündelt und konstruktiv weiterführt.
Die Marburger praktisch-theologische Dissertation, die am Lehrstuhl von Ulrike Wagner-Rau entstanden ist, zeigt schon mit dem Titel »Leben in Pfarrhäusern« an, dass es um die heutige »Pluralität« von Wohn- und Lebenssituationen im Pfarrhaus geht (12). H.s Ziel ist eine »zeitgemäße« Interpretation dieser »protestantischen Lebensform« (16). Dazu wählt sie einen multiperspektivischen Ansatz, der historische, soziologische, empirische und praktisch-theologische Zugänge verbindet und bewusst auch die Geschlechterverhältnisse einbezieht.
Im Mittelpunkt steht die Auswertung von neun Interviews mit Pfarrpersonen, die allesamt in Pfarrhäusern wohnen, sich aber hinsichtlich ihrer Lebens- und Wohnsituation unterscheiden. Diese Interviews ermöglichen einen systematischen Blick auf »individuelle Erfahrungen« im Pfarrhaus (33).
Mit diesem Ansatz bei den individuellen Erfahrungen bietet H. eine wichtige Ergänzung zu den bisherigen Perspektiven, die sie im ersten Teil ihrer Studie vorstellt. Im historischen Rückblick erinnert sie daran, dass das Leben im Pfarrhaus bereits seit der zweiten Hälfte des 20. Jh.s durch Pluralisierung geprägt ist: Ehemals patriarchalische Rollenverhältnisse sind durch die Berufstätigkeit von Pfarrfrauen und die Öffnung des Pfarramts für Frauen in Fluss geraten. Seit der Schaffung von Funktions- und Sonderpfarrämtern gilt die Dienstwohnungspflicht nicht mehr für alle Pfarrpersonen. Und schließlich sorgen Teildienstverhältnisse zum Teil für eine gewachsene Berufsförmigkeit des Pfarramts.
Mit dem Hinweis auf den historischen Wandel wendet sich H. zu Recht gegen idealisierende Darstellungen, die »Präteritum und Präsens« (28 f.) vermischen. Ihr Anliegen ist, das Leben in Pfarrhäusern vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen wie der »Individualisierung« (85) und der Pluralisierung von »Lebensformen, Familie und Geschlechterverhältnissen« zu verstehen (87) und die Diskussion um das Pfarrhaus in die aktuelle Diskussion um die Zukunft der kirchlichen Strukturen einzuordnen.
Beim Durchgang durch die vorhandenen Studien und Stellungnahmen zum Pfarrhaus und bei der Auswertung der Interviews stößt H. erneut auf die Spannung zwischen Idealbild und Empirie. Mehrfach verweist sie auf die EKD-»Empfehlungen zu Fragen des Pfarrhauses« von 2002, die in der Begründung des Pfarrdienstgesetzes von 2010 noch einmal zitiert sind: Hier figuriert das Pfarrhaus als Zeichen für die »Untrennbarkeit von Amt und Person«; zudem wird auf seine Bedeutung als »Projektionsfläche und Orientierungspunkt für Vorstellungen […] von gelungenem Leben« und als diakonische Anlaufstelle hingewiesen (129).
Dass das Pfarrhaus tatsächlich eine diakonische Bedeutung hat, zeigen empirische Befragungen unter Pfarrpersonen und Repräsentanten der inner- und außerkirchlichen Öffentlichkeit. H. be­zieht sich auf zwei Studien aus dem Bereich der Nordkirche, nämlich die Studie »Pastorin und Pastor im Norden« sowie die Pfarrhausbefragung aus dem Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD (SI). Danach ist das Pfarrhaus primär als »sozialer Backup« für »an­dere« von Bedeutung – nicht für die Befragten selbst (119 f.). Auch die Vorbilderwartung hat sich verändert, wie H. unter Hinweis auf die SI-Studie herausarbeitet: Es geht jetzt nicht mehr um die spezifische Vorbildlichkeit der Pfarrperson; oft werden dieselben Maßstäbe angelegt wie an andere Personen des öffentlichen Lebens, z. B. Lehrer (121). Dass sich die Vorbilderwartungen verändert haben, zeigt sich auch in der gewachsenen Offenheit für gleichgeschlechtliche Paare im Pfarrhaus.
H. plädiert dafür, zwischen der symbolischen und der funktionalen Bedeutung der Pfarrhäuser klar zu unterscheiden (297). Im Gespräch mit der aktuellen pastoraltheologischen und kirchentheoretischen Diskussion stellt sie heraus, dass der bisherige Sinn des Pfarrhauses eng mit dem parochialen Prinzip und dem Konzept des Pfarramts als einer lebensförmigen Profession verbunden ist. Angesichts der Entgrenzungstendenzen, die das gegenwärtige Arbeitsleben nicht nur im Pfarramt prägen, wird nach H. das doing boundary (93) und damit auch die Berufsförmigkeit immer wichtiger. Zutreffend beschreibt sie, wie sich im Pfarrhaus die »Grundspannung des Pfarrer-Seins zwischen Berufs- und Lebensförmigkeit manifestiert« (294). Umso dringlicher wird für sie die bewusste Gestaltung von »Nähe und Distanz« durch die Pfarrpersonen, was die kirchenleitenden Ebenen nicht von der Aufgabe entbindet, für »eine saubere räumliche Trennung von Dienst- und Privatbereich […] und klare Dienstaufträge« zu sorgen (295).
Sind Pfarrhäuser heute noch nötig, wenn sich die Erreichbarkeit durch technische Mittel sicherstellen lässt und das Pfarrhaus in größer werdenden Gemeindegebieten nicht mehr zwingend für räumliche Nähe steht? Ist die Dienstwohnungspflicht weiterhin erforderlich, wenn man an das heutige Profil des Pfarramts denkt? H. kommt zu einer differenzierten Einschätzung. Für sie ist räumliche Nähe keine Garantie für die notwendige Präsenz in der Gemeinde, und die Residenzpflicht kann den freiwilligen Stellenwechsel nicht nur fördern, sondern auch erschweren, nämlich dann, wenn jeder berufliche Wechsel mit der Notwendigkeit eines »Neuanfangs« für die Familie an anderer Stelle verbunden ist (199).
Trotzdem plädiert H. nicht für den weitgehenden Abschied vom Pfarrhaus wie z. B. in der schwedischen Kirche. Als Argumente für den Erhalt nennt sie die Sichtbarkeit der Institution Kirche und den Umstand, dass Pfarrhäuser gerade in Städten mit hohen Mieten einen Bestandteil der Pfarrversorgung darstellen (141). Darum unterstützt sie ein Vorgehen wie das der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, die den Verkauf von Pfarrhäusern nicht alleine der Kirchengemeinde überlässt und den Erhalt von »prägnanten« Gebäuden priorisiert (137).
Insgesamt legt H. ein differenziert argumentierendes Buch vor, das mit seiner pragmatischen Nüchternheit die aktuelle Debatte ums Pfarrhaus wirklich bereichert. Sie misst normative Vorstellungen an empirischen Ergebnissen und erinnert die Kirchenleitungen an ihre Fürsorgepflicht, entlässt die Pfarrpersonen aber auch nicht aus ihrer Eigenverantwortung für bewusstes doing boundary. Zu ihrer Kritik an historischen verfestigten Bildern passt auch, dass sie von einem »fortdauernden Bedeutungswandel der Pfarrhäuser« ausgeht (296). Gerade, wenn sich das gegenwär-tige Parochialsystem zu einer »Mehrzahl ›kirchlicher Orte‹« nach Uta Pohl-Patalong ausdifferenzieren sollte (298), steht die Frage nach neuen Nutzungsformen an: H. denkt hier an eine »diakonisch-soziale« Nutzung als Kinderheim, Diakoniestation oder Mehrgenerationenhaus – oder an eine Nutzung, die Gemeinde-büro, Amtszimmer und Gruppenräume unter einem Dach verbindet (299 f.).