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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1260–1261

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Shanks, Andrew

Titel/Untertitel:

A Neo-Hegelian Theology. The God of Greatest Hospitality.

Verlag:

Abingdon: Ashgate Publishing (Routledge) 2014. 158 S. Geb. £ 95,00. ISBN 978-1-4724-1087-0.

Rezensent:

Martin Wendte

Seit 15 Jahren verfolgt der britische Theologe und Pfarrer Andrew Shanks in einer Reihe von kürzeren Monographien das anspruchsvolle und interessante Projekt, im Anschluss an Hegel eine philosophische Theologie zu entwickeln und vor den Herausforderungen der Gegenwart zu verantworten. Die grundlegende Einsicht Hegels ist laut S. diejenige, dass Wahrheit als Offenheit zu denken sei, nicht als Korrespondenz (truth-as-openness, nicht truth-as-correspondence). Die Offenheit besteht darin, in Anerkenntnis vieler Am­bivalenzen alle Einzelbestimmungen zu überschreiten und sich ganz der sich ereignenden Gegenwart zu öffnen. Anders ge­sprochen: Im Überstieg über jede partikulare Bestimmtheit wird alle Semantik in Pragmatik überführt. Im Anschluss an eine trinitätstheologische Struktur entwickelt und verteidigt S. dieses Konzept in den ersten drei Kapiteln des Buches gegenüber drei Gefährdungen aus Praxis und Theorie.
Im ersten Kapitel (9–36) – das dem Heiligen Geist gewidmet ist und sich ebenso mit gegenwärtigen Auseinandersetzungen innerhalb der anglikanischen Kirche befasst wie mit Hegel, Sebastian Castello und John Milton – entwickelt S. truth-as-openness in seiner praktischen Dimension als einer umfassenden, solidarischen Ge­meinschaft. Er verteidigt sie damit gegenüber denjenigen Kräften, die die Kirche als eine in sich abgeschlossene Gruppe organisieren wollen und dabei Angst vor internen Dissensen haben. Die Häresie seiner Gegner besteht nicht darin, die eine oder andere inhaltliche Bestimmtheit des Glaubens falsch zu fassen, sondern darin, dass sie die Kirche überhaupt um unumstößlich inhaltlich feste Bestimmungen (wie etwa die Glaubensbekenntnisse) herum aufbauen wollen.
Im zweiten, Gott dem Vater gewidmeten Kapitel (37–68) atta-ckiert S. unter Bezug auf Overbeck, Bultmann und Barth ein sol-ches Glaubensverständnis, das Gott mithilfe metaphysischer Be­stimmtheiten entwickelt. Hegel hingegen – so versucht es S. in einem kurzen Durchgang durch die für ihn wichtigsten Werke Hegels, die Wissenschaft der Logik und die Phänomenologie des Geis­tes, zu zeigen – ist gerade kein in diesem Sinne metaphysischer Theologe. Denn Gott entspricht keiner der metaphysischen Kategorien der Wissenschaft der Logik und erscheint in der Phänomenologie als das Aufbrechen jeder verstandes-gemäßen festen Be­stimmtheit.
Im dritten, Gott dem Sohn gewidmeten Kapitel (69–96) rekurriert S. auf verschiedene Strömungen biblischer Theologie und verdeutlicht, dass die Wahrheit als Offenheit gegen jede Form von Propaganda zu setzen ist. Dies gilt umso mehr, weil die Inkarnation besagt, dass in Christus jeder einzelne Mensch unendlichen Wert erhält, und weil Christus am Kreuz selbst das Opfer von Propaganda geworden ist. Die Stärke Hegels, so das vierte Kapitel (97–125), besteht darin, dass er im Gegensatz zu Kant die Ambivalenzen der Geschichte nicht vorschnell überspielt, sondern sichtbar macht und durcharbeitet und auf diese Weise jeder Propaganda entgegenwirkt. Heutzutage ist dieses »principle of subjectivity« gemeinsam mit vielen zivilgesellschaftlichen Vorkämpfern wie Amnesty International auch gesellschaftlich durchzukämpfen.
Das letzte Kapitel (125–148) widmet sich der Frage, wo denn alles begann schiefzulaufen. In Abwägung verschiedener Alternativen meint S., dass bereits früh in der Alten Kirche aufgrund der Traumata der Christenverfolgungen entscheidende Fehler gemacht wurden, indem man Scheinsicherheiten in der Wahrheit als Korrespondenz suchte anstatt in der Wahrheit als Offenheit.
Das gut lesbare Buch beeindruckt dadurch, dass es drei Ebenen miteinander verbindet: Es verbindet eine klare systematisch-theologische Positionierung unter ständigem Rückgriff auf Hegel, welche (zweitens) durch eine Vielzahl von Rekursen in die Kirchen-, Theologie- und Philosophiegeschichte an Profil gewinnt und (drittens) in Auseinandersetzung mit aktuellen Entwicklungen in der anglikanischen Kirche und darüber hinaus ihre praktische Relevanz erweist.
Zu kritisieren ist nicht nur die formale Seite des Buches, da S. seine zahlreichen Rekonstruktionen von Autoren und denkerischen Strömungen ohne jede ausgewiesene Auseinandersetzung mit Sekundärliteraturen zum jeweiligen Thema entwickelt. Die Kritik betrifft auch verschiedene Dimensionen des dargelegten Inhaltes, welcher allzu grobflächig entwickelt wird. In Bezug auf die Hegel-Exegese: Sosehr Hegel letztlich in der Tat auf ein Wahrheitsverständnis zielt, das prozessual zu denken ist und alle festen Be­stimmtheiten verflüssigt, sosehr stellt sich die Frage, ob das nicht gerade in der Wissenschaft der Logik und ihrem Schlusskapitel zur Darstellung kommt, und ob das nicht auch in der späteren Reli-gionsphilosophie angemessener entwickelt ist als in der Phänomenologie. Und warum wird Hegel, der doch immer die Religion in die Philosophie sich aufheben sieht (was S. nicht weiter diskutiert), mehrfach als Vertreter der Wahrheit einer »anderen Liturgie« dargelegt (69 f.)? In Bezug auf die inhaltliche Position selbst: Ist die vertretene Wahrheitstheorie, indem sie mit der Korrespondenz letztlich auch die Möglichkeit von Kritik attackiert, nicht entgegen ihrer eigenen Intention strukturell autoritär? Und, ins Praktische gewendet: warum eine eigene christliche Kirche, wenn das Sausen des Geistes in allen Gruppierungen und Religionen gleichermaßen zu hören ist? Bei aller Sympathie für theoretische und praktische Öffnungsbewegungen scheint doch vieles für eine Wahrheitstheorie zu sprechen, die die pragmatischen und die semantischen As­pekte miteinander verschränkt, ohne sie hart gegeneinander auszuspielen.