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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1257–1259

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Plantinga, Alvin

Titel/Untertitel:

Gewährleisteter christlicher Glaube. Übers. v. J. Schulte.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2015. XXV, 616 S. Kart. EUR 39,95. ISBN 978-3-11-043912-0.

Rezensent:

Ralf-Thomas Klein

Alvin Plantinga gilt als einer der einflussreichsten Religionsphilosophen der letzten Jahrzehnte. Sein Opus magnum Warranted Christian Belief liegt nun in deutscher Übersetzung vor. Das Hauptziel des Buches ist, den von P. so genannten »De-jure-Einwand« gegen den christlichen Glauben zu entkräften. – Unter christlichem Glauben versteht er »das, was den großen Glaubensbekenntnissen der Hauptkonfessionen der christlichen Kirchen gemeinsam ist.« (IX)
Dieser Einwand lässt sich etwa wie folgt formulieren: »Ich weiß zwar nicht, ob der christliche Glaube wahr ist – wer kann denn dergleichen überhaupt wissen? –, aber ich weiß dass er irrational ist (bzw. in intellektueller Hinsicht ungerechtfertigt, unvernünftig oder intellektuell fragwürdig).« (XV) Ein solcher Einwand macht es für Kritiker überflüssig, nach Argumenten ge­gen die Wahrheit des christlichen Glaubens zu suchen – Überzeugungen, die irrational sind, bedürfen keiner Widerlegung.
Der Einwand ist allerdings nicht präzise formuliert. In welchem Sinn soll christlicher Glaube »in intellektueller Hinsicht ungerechtfertigt« oder »irrational« sein? Und worauf könnte sich ein solcher Vorwurf stützen? Nachdem er – sozusagen als Vorarbeit – den Vorwurf zurückgewiesen hat, es sei unmöglich, dass wir mit Begriffen menschlicher Sprache überhaupt auf Gott Bezug nehmen können (3–74), untersucht P. daher verschiedene Versionen des De-jure-Einwands. Er kommt dabei (75–127) zu dem Ergebnis, dass die These unhaltbar sei, christlicher Glaube sei nicht gerechtfertigt im deontologischen Sinne. Es gibt viele Christen, denen man nicht den Vorwurf machen kann, dass sie ihre erkenntnistheoretischen Pflichten verletzten. Sie haben die Einwände gegen den Glauben untersucht und als nicht überzeugend beurteilt – welche Pflichtverletzung sollte man hier konstatieren? Auch eine Formulierung des De-jure-Einwandes im Sinne mangelnder Rationalität wäre wohl kaum ernst zu nehmen: Die meisten Christen weisen keinen erkennbaren Defekt ihrer Rationalität auf, und zwar unter keinem gängigen Verständnis dieses Begriffs (128–157).
Für den erfolgversprechendsten Kandidaten hält P. den »Freud-Marx-Einwand«, der darauf hinausläuft, dass christliche Überzeugungen durch kognitive Prozesse hervorgebracht werden, die nicht »warranted« sind (158–190). Das schwierig zu übersetzende »warrant« wird von dem Übersetzer Joachim Schulte meist mit »Ge­währleistung« oder »Gewähr« wiedergegeben. Für P. ist die Überzeugung einer Person S dann gewährleistet, wenn sie »durch richtig funktionierende (also keiner Fehlfunktion unterliegende) Vermögen (engl.: ›cognitive faculties‹) hervorgebracht wird, und zwar in einer für die kognitiven Fähigkeiten von S geeigneten kognitiven Umgebung und gemäß einem Bauplan, der erfolgreich auf die Wahrheit abzielt.« (183)
Im Hauptteil des Werkes will P. nun ein Modell vorlegen, gemäß dem es christliche Überzeugungen gibt, die genau diesen Anforderungen gerecht werden, die also gewährleistet sind. Er nennt sein Modell »Thomas-von-Aquin/Calvin-Modell«, da er die Grundzüge seines Ansatzes bereits bei diesen beiden Theologen angelegt sieht. Nach dem einfachen A/C-Modell (das theistische Überzeugungen im Allgemeinen erklären soll) hat der Mensch einen »sensus divi-nitatis«, eine natürliche Disposition, in bestimmten Situationen Überzeugungen zu bilden, die Gott betreffen (193–231). Dieser »Sinn für das Göttliche« ist durch die Folgen der Sünde gestört (232–282). Gemäß dem erweiterten A/C-Modell (das spezifisch christliche Überzeugungen erklären soll) kann durch das Wirken des Heiligen Geistes nicht nur diese Störung bezüglich theistischer Überzeugungen im Allgemeinen (zumindest teilweise) überwunden werden, es können auch spezifisch christliche Überzeugungen »unserem Verstand offenbart« (283–341) und »in unserem Herzen versiegelt« werden (342–381).
Diese Überzeugungen sind – wie alle durch richtig funktionierende kognitive Fähigkeiten hervorgebrachten Überzeugungen – durch einen internen »Marker« ge­kennzeichnet, ein »Gefühl der Richtigkeit«; P. spricht hier von »doxastischer Evidenz«.
P. erhebt für sein Modell nur einen relativ bescheidenen An­spruch: 1. Sein Modell ist epistemisch möglich, d. h. es ist vereinbar mit dem, was wir wissen; es gibt keine zwingenden Einwände gegen das Modell. 2. Das A/C-Modell (oder ein ähnliches Modell) ist wahr, wenn der christliche Glaube wahr ist. P. ist zwar von der Wahrheit des christlichen Glaubens überzeugt, er hält es aber nicht für möglich, diese Wahrheit »nachzuweisen« oder zu »zeigen«. Das spricht für ihn allerdings nicht gegen die Wahrheit oder Gewährleistung christlicher Überzeugungen. »Nur sehr wenig von dem, was wir für wahr halten, lässt sich ›nachweisen‹ oder ›zeigen‹.« (196)
Der Verzicht auf eine Argumentation für die Wahrheit christlicher Überzeugungen ist in der Diskussion im englischsprachigen Raum verständlicherweise moniert worden. Andererseits benötigt P. zur Erreichung seines Zieles nur den konditional formulierten Wahrheitsanspruch: Auch wenn sein Modell nur wahr ist unter der Voraussetzung, dass der christliche Glaube wahr ist, lässt sich der De-jure-Einwand nicht mehr aufrechthalten. Denn dann ist eben nicht mehr einfach davon auszugehen, dass christliche Überzeu gungen irrational sind – wie auch immer es um ihre Wahrheit bestellt sein mag. Um christliche Glaubensüberzeugungen zu diskreditieren, müssen nun Einwände gegen deren Wahrheit formuliert werden. Und diese Einwände sind nicht erfolgreich – das ist jedenfalls P.s Ergebnis der letzten 200 Seiten des Buches, wo er sich mit den nach seiner Einschätzung wichtigsten möglichen Einwänden auseinandersetzt (vor allem mit einer bestimmten Form historisch-kritischer Bibelwissenschaft, der Pluralität religiöser Überzeugungen und dem Argument gegen die Existenz Gottes aus der Existenz des Übels).
Die Übersetzung eines Werkes wie »Warranted Christian Belief« steht nicht nur vor den üblichen Herausforderungen (so ist es wohl kaum möglich, ein »Augenzwinkern« oder humorvolle Untertöne, die im Englischen noch wahrnehmbar sind, immer im Deutschen zur Geltung zu bringen), sie steht auch vor der Schwierigkeit, Fachbegriffe zu übertragen, für die sich im Deutschen noch kein fester Sprachgebrauch eingebürgert hat. Hier liegt es wohl in der Natur der Sache, dass nicht jeder mit den vorgetragenen Lösungen zufrieden ist.
So scheint mir die Übersetzung von »warrant« mit »Gewährleis­tung« noch recht gelungen, die Wiedergabe von »defeater« mit »Bezwinger« halte ich aber für weniger passend als die bereits im Umlauf befindlichen Übersetzungen »Entkräfter« oder »Anfechtungsgründe«. Die Übersetzung von »foundationalism« mit »Fundierungsgedanke« oder die häufige Übersetzung von »evidence« mit »Beleg« weckt im Deutschen eher irreführende Assoziationen. Bei solchen Fachbegriffen, die aus dem Lateinischen abgeleitet sind, halte ich es für die bessere Lösung, einen entsprechenden deutschen Fachterminus zu bilden (z. B. »Fundationalismus«), erst recht, wenn dieser bereits im Deutschen geläufig ist (»Evidenz«).
Abgesehen von solchen weniger gravierenden Kritikpunkten ist es Joachim Schulte gelungen, dieses wichtige Werk in einer gut lesbaren deutschen Fassung zu präsentieren. Ich kann mich daher nur der von P. im Geleitwort zur deutschen Ausgabe formulier-ten Hoffnung anschließen, dass »die Übersetzung dazu beitragen könnte, dass es bei der Annäherung zwischen der angloamerikanischen und der kontinentaleuropäischen Religionsphilosophie zu Fortschritten kommt.«