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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1237–1239

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Wallraff, Martin, Seidel Menchi, Silvana, and Kaspar von Greyerz[Eds.]

Titel/Untertitel:

Basel 1516: Erasmus’ Edition of the New Testament.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. XIX, 319 S. = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 91. Lw. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-154522-1.

Rezensent:

Markus Wriedt

Schenkt man der medialen Repräsentanz von kulturellen Memorialereignissen Glauben, so ist das Reformationsjubiläum von 2017 von singulärer Bedeutung. Bei näherem Hinsehen und kritischer Prüfung erweist sich das freilich als nicht so singulär wie behauptet, vor allem nicht unverbunden zu anderen erinnerungswürdigen Ereignissen. Zweifellos gehört die kritische Edition des Neuen Testaments in griechischer und lateinischer Sprache zu solchen Anniversarien, ohne welche das Gedächtnis der Reformation schlechterdings nicht möglich wäre. Freilich steht die Veröffentlichung der Edition auch noch in ganz anderer Hinsicht in denkwürdiger Verbindung. Es ist darum nicht allein korrigierender Konkurrenz geschuldet, sondern mit gewichtigen historiographischen Gründen zu belegen, dass ein Band in Erinnerung an die 500. Wiederkehr der Druckausgabe des Neuen Testaments von Erasmus erscheint. Letztere liegen neben der Erstveröffentlichung der »Utopia« von Thomas Morus besonders in dem Abschluss eines »ewigen Friedens« zwischen Frankreich und Rom, dem das Konkordat von Bologna folgte, in welchem nähere Bestimmungen für das Verhältnis von Papst und König festgelegt wurden. Alle diese Ereignisse stehen fraglos auch in Beziehung zur Bekanntgabe der 95 Thesen Martin Luthers am 31. Oktober 1517, vor allem aber im Kontext der weiteren Entwicklung der Reformation und ihrer Ausdifferenzierungen in Deutschland und später ganz Europa.
Der Band repräsentiert 15 Beiträge einer Konferenz, die ebenfalls in der zeitlichen Nähe eines Jubiläums stattfand, nämlich der 500. Wiederkehr der Ankunft des Erasmus in Basel (1514). Die dort gehaltenen Vorträge wurden einer sorgfältigen Revision unterzogen und in ein systematisches Gliederungssystem eingefügt, das auf den ersten Blick einleuchtet und zugleich eine sorgsam reflektierte Herausgabe dokumentiert. Die Aufsätze werden in drei sachlichen Zusammenhängen präsentiert, die man verkürzt mit Philologie, Text, und Verbreitung bzw. Rezeption überschreiben könnte. Die weitere Lektüre zeigt freilich, dass sich die dargebotene Forschung in zahllosen Verbindungen untereinander vollzieht und mannigfaltige Perspektiven zur weiteren Arbeit eröffnet, die mit den knappen Überschriften nur unzureichend charakterisiert sind.
Ersichtlich wird dies bereits im ersten Abschnitt »The Novum Instrumentum 1516 and Its Philological Background«, in dem Marc Vessy, Erika Rummel, August den Hollander und Ignacio García Pinilla den Hintergrund der philologischen Arbeit von Erasmus und seinem Mitarbeiterteam erläutern. Die von Johann Froben initiierte Ankunft des Erasmus, die zunächst ja nur als Zwischenstopp auf dem Weg nach Rom gedacht war, geht jedoch nicht auf die Grille eines Verlegers zurück, sondern dokumentiert im Hinblick auf die sich in Europa etablierende Arbeit am biblischen Text eine verlegerische Vision. Mit dem »Fürst der Humanisten« versprach sich der Baseler Verleger die Anwerbung eines Autors, der die erkennbaren Einzelstränge bibelkritischer Forschung zusammenführen und sich an deren Spitze setzen könnte. Zugleich wird sichtbar, dass Erasmus, wenn denn nicht zum Mittelpunkt, so doch zu einem ganz wichtigen Knotenpunkt eines bibelhumanis­tisch fokussierten europäischen Gelehrtennetzwerkes werden sollte. Damit entsteht eine spezifische Form des Humanismus, für den sich der von Helmar Junghans geprägte Begriff »Bibelhumanismus« eingebürgert hat. Dessen geographischer Referenzrahmen ist deutlich größer, als man aufgrund bisheriger Forschungen vermuten konnte, und weist zugleich in eminenter Weise auf ähnlich gelagerte Interessen im 15. Jh. zurück. Besonderes Augenmerk verdient in diesem Zusammenhang die von spanischen Humanisten bearbeitete complutensische Polyglotte. Pinilla zeigt in seinem Aufsatz differenziert, dass hier zunächst ohne spezifische Konkurrenzintention nebeneinander gearbeitet wurde und sich erst in späteren Auflagen eine interdependente Kommunikation und wechselseitig einflussreiche Weiterarbeit ergab.
Der zweite Teil »The Text of the New Testament and its Addi-tions« stellt mustergültige Textkritik zur Verfügung, öffnet aber auch immer wieder den Blick auf die Verbindungen, die Erasmus zu zeitgleichen und früheren Bearbeitern des Bibeltextes hatte. Patrick Andrist und Andrew J. Brown konzentrieren sich dabei auf den Handschriftenbefund und die Manuskript-Quellen, die Erasmus zur Verfügung standen. Martin Wallraff und Mieske van Poll-van-de-Lisdonk erarbeiten dabei die Annotationspraxis des Baseler Humanisten, der seinem Werk gleichsam einen ganzen Kommentar aus altkirchlichen und mittelalterlichen Überlieferungen hinzufügte. Die übergeordnete und dann erneut theologiehistorisch gewichtige Frage nach der Intention der Edition des Neuen Testaments versuchen Jan Krans und Silvana Seidel Menchi zu beantworten. Offenkundig ging es dem Gelehrten nicht um eine valide Rekonstruktion des griechischen textus receptus, sondern vielmehr um eine philologisch-textkritische Evaluation der gebräuchlichen Vulgataverwendung. Deren Text war Hieronymus zugeschrieben und in dieser Textgestalt seit dem Mittelalter faktisch als kanonisch angesehen worden. Erasmus wollte durch eine subtile Analyse Widersprüche und offenkundige Fehllesungen tilgen und zugleich einen gesicherten Text für die weitere theologische Arbeit herstellen. Die dabei entstehende griechische Textfassung war ein Gewinn, der freilich nicht in erster Linie zur Arbeit motiviert hatte.
Der abschließende dritte Teil »Communicatio and Reception« enthält fünf gewichtige Beiträge zu Fragen des intellektuellen und bibliophilen Netzwerkes, in dem sich Erasmus befand, aber auch zur Frage der Wechselwirkungen mit anderen, zeitgleichen Textrevisionen der Bibel. Valentina Sebastiani rekonstruiert die Wirkungen der Textausgabe anhand ihrer Verkaufserfolge und der damit verbundenen Marketingstrategien. Marie Barall-Baron nimmt noch einmal die Frage nach der Intention des Humanistenfürsten für seine ambitionierte Arbeit auf und interpretiert diese als individuelle Fortsetzung der renaissance-humanistischen Ar­beit an literarischen Quellen des Abendlandes. In drei verschiedenen Re­gionen wird sodann nach der Wirkung von Erasmus’ novum instrumentum gefragt: in Italien (Gerda Kroeker), in Frankreich (Sundar Henny) und im Alten Reich (Christine Christ-von Wedel). In allen diesen Regionen sind es zunächst die Humanisten, die sich mit dem Text auseinandersetzen. Turbulent und – nicht zuletzt wegen des kirchlichen Argwohns gegen diese Art von philologischer Bi-belkritik – aufrührerisch war die Rezeption dann allerdings in Deutschland, wo sich die junge Reformationsbewegung, vor allem aber nachweislich Martin Luther seit April 1516 in seiner Römerbriefvorlesung, intensiv auf die Edition von Erasmus stützte. Diesem dürfte die dezidiert kirchenkritische Dimension seiner Bibelkritik zwar inhaltlich deutlich gewesen, aber wohl kaum gelegen gekommen sein. In Frankreich blieben Bibelhumanisten wie Faber Stapulensis und der junge Calvin lange Zeit – bis etwa Mitte der 1530er Jahre – als kirchenkritische, gleichwohl aber der einen abendländischen Kirche zugehörige Gelehrte akzeptiert und wurden erst nach der affaire des placards (1534) als Reformatoren und Lutheranhänger denunziert und verfolgt. Im Alten Reich gingen die Wogen durch Luthers Auftreten seit 1518 sehr viel früher hoch und provozierten einen sukzessiven Rückzug des Baseler Humanisten von den zunächst durchaus goutierten Kirchenreformideen der Reformatoren.
Der Band bietet neben zahlreichen detaillierten Forschungsbeiträgen, die in der weiteren Debatte nicht mehr übersehen werden können, den Nachweis einer intensiven und fruchtbaren interdisziplinären Zusammenarbeit von Vertretern historisch arbeitender Disziplinen wie Geschichte der Frühen Neuzeit, Theologie, Philosophie, Literaturgeschichte, Kulturwissenschaft, Philologie und Buchwissenschaft. Etliche Erträge der gemeinsamen Arbeit werden in den Aufsätzen sichtbar. Man kann allerdings nur erahnen, welche intensive Diskurskultur ihnen Raum zur Entfaltung bot. Im Gegensatz zu zahllosen, häufig nur wenig ergiebigen und willkürlich zusammengestellten Sammelpublikationen bietet der vorgelegte Band eine sorgfältige Konzeption, in die sich alle Beiträge ohne Willkür eingefügt haben. Die Sammlung ist aus künftigen Bearbeitungen der Bedeutung des Erasmus für die moderne Bibelwissenschaft, aber auch seiner Wirkmacht in den verschiedenen Regionen Europas – und eben nicht nur auf den späteren Gebieten der Reformation – nicht mehr wegzudenken. Sie wirft ein wichtiges Licht auf die nicht enden wollende Debatte über das Verhältnis von Humanismus und Reformation einerseits, aber auch auf das Verhältnis von katholischer Reform und bibelhumanistischen Be­mühungen. Ob Erasmus in seiner philologischen Arbeit an der Bibel tatsächlich eine überkonfessionelle Stellung eingenommen hat, muss vorerst offen bleiben. Die Beiträge zeigen aber hinlänglich, dass die Verwendung philologisch-textkritischer Methoden jenseits der konfessionellen Systemkonkurrenz, die späterhin so manche theologische und exegetische Initiative lähmte, ihre Be­deutung und Wirkmächtigkeit entfalten konnte.
Obwohl ein konzentrierter Sammelband zum Erscheinungsjubiläum des griechischen Neuen Testaments von Erasmus, ist das Buch zugleich ein für die gesamte Frühneuzeitgeschichtsforschung unbedingt auch weiterhin zu berücksichtigender Beitrag.