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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1192–1194

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Said, Behnam T.

Titel/Untertitel:

Hymnen des Jihads. Naschids im Kontext jihadistischer Mobilisierung.

Verlag:

Würzburg: Ergon-Verlag 2016. 361 S. = Mitteilungen zur Sozial- und Kulturgeschichte der islamischen Welt, 38. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-95650-125-8.

Rezensent:

Christine Schirrmacher

Behnam T. Said untersucht in seiner Dissertation jihadistische Kampflieder, sogenannte Nashids. Im Zentrum der Studie stehen eine Analyse ihres Inhalts und ihrer Wirkungsweise sowie ihre Entstehungsgeschichte. Zwar thematisieren nicht alle religiösen Ge­sänge im Kontext des Islam Kampfhandlungen oder dienen direkt der Mobilisierung von Jihadisten. Es gibt auch Nashids, die religiöse Riten wie die Pilgerfahrt oder das Fasten im Ramadan zum Thema haben. Auch kann es sich bei einem Nashid um eine nationale Hymne handeln (einen sogenannten wataniya-nashid) oder um populär-religiöse Gesänge, die teilweise für Kinder und Ju­gendliche konzipiert werden. Und auch unter den Kampfliedern thematisieren nicht alle Nashids den Jihad. Es existieren auch Trauer- und Lobgesänge, Märtyrerlieder, Gesänge, die sich an die Mutter des Kämpfers richten oder die Gefangenschaft themati-sieren.
Im Fokus der Studie stehen bei S. jedoch Nashids als Kampfgesänge, die aus dem jihadistisch-salafistischen Bereich stammen. Sie sind mittlerweile fester Bestandteil der jihadistischen Jugendkultur, vor allem im westlichen Kontext. Insbesondere mit Hilfe von Internetauftritten jihadistischer Gruppen und Einzelpersönlichkeiten wird eine virtuelle umma (Gemeinschaft aller Muslime) als Gegenkultur zur realen Welt erschaffen. Jihadistische Gesänge bilden eine Brücke zwischen dem Leben im Westen und der weltweiten Gemeinschaft der Muslime und machen extremistische Ideologien leicht eingängig. Auf diese Weise werden Nashids zum Werkzeug der Radikalisierung vor allem junger Menschen.
S. erläutert, dass Nashid-Dichter mit ihren Kampfliedern keine neue Musikgattung erfinden mussten, sondern auf traditionelle Formen islamisch-religiöser Gesänge und die weit in die Geschichte zurückreichende melodiöse Rezitation von Gedichten im ara-bischen Kulturraum zurückgreifen konnten. Diese Verknüpfung von integralen Bestandteilen einer »islamischen« Kultur mit dem zeitgenössischen jihadistischen Nashid trägt wesentlich zu dessen Akzeptanz bei: Der Hymnen-Charakter der historischen Vorbilder wird beibehalten, die klassisch-arabische Metrik und die Reimlehre etwas abgewandelt und dem Gesang eine neue inhaltliche Ausrichtung verliehen, indem jetzt mit dem Lied die Ausübung von Gewalt im Namen des Islam gerechtfertigt wird.
S.s Studie gliedert sich in vier Teile: Im ersten Teil zeichnet S. die Geschichte der jihadistischen Nashids nach. Im zweiten Teil analysiert er Musik und Texte in Bezug auf ihre islamrechtlichen Elemente, die maßgeblich von der Ideologie der Muslimbruderschaft sowie wahhabitischem und salafistischem Gedankengut dominiert werden. Im dritten Teil stellt S. einige Textbeispiele und Sänger von Kampfliedern, Trauerliedern, Lobliedern auf Führungspersonen, Märtyrerliedern, Liedern an die Mutter, Gefangenenliedern sowie Liedern vor, die bestimmte Konfliktsituationen zum Thema haben. Den Abschluss des Kapitels bildet die Analyse einiger Na­-shids mit Deutschlandbezug. In einem vierten Teil erörtert S. ab­s chließend die Frage, welche Funktionen jihadistische Nashids ausüben und inwiefern sie Teil eines Radikalisierungsprozesses sein können.
Heutige jihadistische Nashids gehen im Kern auf das politisch-islamische Liedgut der 1970er und 1980er Jahre zurück. In diesen Jahrzehnten des »Islamischen Erwachens« nach dem Ende der Bündnis- und Blockbildung mit der Sowjetunion bildete das da­mals entstandene islamistische Liedgut eine Gegenkultur zu den autokratischen Regimen des Nahen Ostens ab. Einzelereignisse wie der Afghanistankrieg ab 1979 oder die erste palästinensische Intifada ab 1987 sowie die Gründung der Hamas brachten eigene Kampf-, aber auch Trauerlieder zum Gedenken an Todesopfer in Kampfhandlungen hervor.
S. erläutert, dass vor allem Ägypten und auch Syrien bereits lange vor Ausbruch des dortigen Bürgerkriegs 2011 die Wiege der Na-shids waren, weniger jedoch Saudi-Arabien. Dorthin wurden die Kampflieder wohl erst durch die Flucht von Anhängern der Muslimbruderschaft ab den 1960er Jahren aus Ägypten und Syrien importiert, aber von etlichen wahhabitischen Gelehrten auf der arabischen Halbinsel zunächst als nicht mit dem Islam vereinbar abgelehnt. Dennoch entstanden als Ausdruck eines Abgrenzungsdiskurses gegen die herrschenden Verhältnisse auch in Saudi-Arabien nach und nach etliche Nashids; beispielsweise gründete Usama Bin Laden in den 1970er Jahren eine eigene Nashid-Gruppe. Heute betrachten zahlreiche Gelehrte aus dem salafistischen und wahhabitischen Spektrum Nashids als zulässig, sofern der Text in seiner religiösen Aussage einwandfrei ist, keine Frauenstimmen zu hören sind und der Nashid nicht vom Koranstudium ablenkt. Auf der arabischen Halbinsel haben Nashid-Gesänge, so stellt S. fest, in der jüngsten Vergangenheit jedenfalls eindeutig an Popularität gewonnen.
Der Einfluss der Kampflieder wird auch daran erkennbar, dass einzelne Nashid-Sänger mittlerweile eine Art Pop-Status innehaben. Sie bieten einer islamischen Fangemeinde eine islamisch »erlaubte« Alternative zu westlicher Musik an. Allerdings sind die Sänger häufig nicht nur Kunstschaffende, sondern auch politische Aktivisten, die mit ihrer Ausreise ins Kriegsgebiet für Jugendliche zum Vorbild werden und auf der Suche nach Identität Orientierung anbieten. Diese Doppelrolle wird etwa im Hinblick auf Na-shid-Sänger wie Dennis Cuspert (alias Deso Dogg) oder Mounir und Yassin Chouka aus Deutschland deutlich, die einige der in der Szene populärsten Nashids verfassten, ihre politisch-extremistischen Auffassungen per Videobotschaft verbreiteten und schließlich selbst an Kampfhandlungen und Selbstmordoperationen im Na­hen Osten beteiligt waren. Über ihre Nashids, so S., schlagen solche Führungs- und Identitätsfiguren die Brücke der Zusammengehörigkeit und der Solidarität zwischen den Kämpfern auf dem Schlachtfeld und den Daheimgebliebenen und stacheln Letztere dazu an, sich ebenso wie ihre Vorbilder für die islamische Gemeinschaft zu opfern. So tragen Nashids als »Lockmittel und Szenekitt« wesentlich zur Akzeptanz und Verfestigung einer politisch-extremistischen Weltsicht bei.
S. hat eine gut verständliche, fundierte Studie vorgelegt. Sie ist die erste umfassende Analyse des Genres der jihadistischen Kampflieder und basiert auf der Übersetzung und Auswertung zahlreicher arabischer Originalquellen. Gerade aus den vielen Textbeispielen wird deutlich, dass es beim jihadistischen Liedgut nicht um ein Phänomen geht, bei dem – wie bisweilen behauptet – die Religion des Islam so gut wie keine Rolle spielt, wenn auch die Verfasser der Texte ebenso wie Werber, Aktivisten und Kämpfer häufig keine ausgebildeten islamischen Theologen sind. Dennoch besteht kein Zweifel daran, dass erst der Rückgriff auf Texte des Korans und der islamischen Überlieferung dem Jihadismus allgemein, aber auch den jihadistischen Gesängen im Besonderen ihre eigentliche Akzeptanz verschafft. Religion ist ein wichtiges Element für die Mobilisierung und Legitimierung der Kämpfer wie für die Identifikation mit den Ausreisenden und »Märtyrern«. Aufgrund ihres nicht zu unterschätzenden Radikalisierungspotentials ist daher eine Beschäftigung mit der Wirkungsweise von Nashids unerlässlich. S.s Studie ist dabei eine große Hilfe.