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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1370–1371

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Dunn, Geoffrey D., and Wendy Mayer [Eds.]

Titel/Untertitel:

Christians Shaping Identity from the Roman Empire to Byzantium. Studies Inspired by Pauline Allen.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2015. XIV, 520 S. = Vigiliae Christianae. Supplements, 132. Geb. EUR 172,00. ISBN 978-90-04-29897-2.

Rezensent:

Martin Illert

Der Band ehrt die australische Altphilologin, Kirchenhistorikerin und Byzantinistin Pauline Allen durch Aufsätze, die Fragestellungen aus Allens wissenschaftlichem Werk aufgreifen. Allens Arbeiten zu den Homilien Johannesʼ Chrysostomus, Severusʼ von Antiochia oder Leontiusʼ von Konstantinopel sowie ihre Studien zu Briefen Synesiosʼ von Cyrene, Augustins oder Kyrills von Alexandria analysieren Identitätsbildungsprozesse der spätantiken Welt auf der Grundlage von homiletischen und epistolographischen Quellen. Im Sinne dieses kirchenhistorisch-sozialpsychologischen An­satzes untersuchen die vorliegenden Beiträge die Integrationsfunktion, die Religion durch die Ausbildung von Gruppenidentitäten und individuellen Selbstverständnissen erbringt. Der große und illus­tre Kreis der Beitragenden spiegelt die hohe Wertschätzung wider, die Allen in der patristischen scientific community ge­nießt und do­kumentiert zugleich den Dialog der australischen Forscherin mit der Patristik Nordamerikas, Europas, Südafrikas und Japans.
Im Anschluss an eine Einführung in die Fragestellung des shap-ing identity und einen Kurzabriss der vorliegenden Aufsätze untersuchen drei Beiträge die Herausbildung christlicher Identitäten in vorkonstantinischer Zeit. David Sim rekonstruiert Identitätsbildung durch Abgrenzung im Matthäusevangelium und kommt gegen die Mehrheit der älteren Forschung zu dem Ergebnis, nicht-jüdische Christen seien für Matthäus vom Heil ausgeschlossen. Michael Lattke nimmt die Selbstbeschreibung des Christentums in der apologetischen Literatur in den Blick und kommentiert einen Abschnitt aus der Apologie des Aristides zum Selbstverständnis der Christen als des neben Juden, Heiden und Barbaren »vierten Ge­schlechtes«. Die Spannung zwischen religiöser Praxis und apologetischer Selbstdarstellung im vorkonstantinischen Christentum arbeitet Theodore de Bruyn in einem Vergleich exorzistischer Formeln auf frühchristlichen Amuletten mit Aussagen der altchrist-lichen Schriftsteller zum Exorzismus heraus. – Mit dem Aufkommen neuer Sozialformen und der Übernahme weitreichender gesellschaftlicher Funktionen durch die nachkonstantinische Kirche wurde auch die Frage nach christlicher Identität neu aufgeworfen. Vier Beiträge betrachten diesen Prozess für den Osten des Imperium Romanum im 4. Jh. Andrew Louth zeigt am Beispiel Basilius’ des Großen, wie sich monastische Spiritualität mit der Theologie der Verherrlichung des Geistes zu einem »›epikletic‹ understanding of the Christian life« (97) verband. Shigeki Tsuchihashi beschreibt die Rezeption und Transformation des platonischen Aufstiegsschemas bei Gregor von Nyssa. Miyako Demura arbeitet den Einfluss des Epiphanius auf das Origenesbild des 4. Jh.s heraus und Wendy Mayer entwirft in einer besonders anregenden Skizze das Bild des Johannes Chrysostomos als eines geistlichen Therapeuten.
Die Beiträge zum Westen im 4. und frühen 5. Jh. widmen sich den drei Kirchenvätern Ambrosius, Augustinus und Hieronymus sowie Papst Innozenz I. Mary Sheater vergleicht Ambrosius’ kirchenpolitisches Handeln mit den in dessen Werk »De officiis ministrorum« definierten Verhaltensnormen für Kleriker und stellt fest, »for the most part his actions and the models he proposes do not conflict with his theoretical tretise« (183). Philip Rousseau deutet das zwischen satirischer Priesterkritik und geistlicher Schriftauslegung changierende Selbstbild des Hieronymus als ein Paradigma christlicher Existenz in der Umbruchzeit des 4. Jh.s. Jacobus Kritzingers Analyse der Funktion biblischer und klassischer literarischer Muster in Hieronymus’ »Vita Malchi«, Naohi Kamimuras Studie zum Vollkommenheitsideal in Augustins Bergpredigtauslegung und Karzuko Demuras Aufsatz zum Armutsdiskurs Augus­tins arbeiten sämtlich die Bedeutung biblischer Motive für die entworfenen Selbst- und Fremdbilder heraus. Geoffrey Dunn be­tont die identitätsstiftende Funktion antihäretischer Polemik bei Innozenz I. und kehrt damit zum Paradigma der Identitätsstiftung durch Ausgrenzung zurück, das bereits im Eingangsbeitrag des Bandes Anwendung fand.
Christliche Identitätsfindung im frühen Byzanz behandeln Brian Crokes Untersuchung des Beitrags der Kaiserin Ariadne (457–515) zur Herausbildung des Rollenverständnisses byzantinischer Kai-serinnen, Bronwen Neils Studie zur Rezeption antiker Traumdeutungstraditionen bei Gregor dem Großen und in Ps.-Daniels »Oneirokritikon« und Youhanna Nessim Youssefs Beitrag zur Verehrung der 40 Märtyrer in der koptischen Kirche des 7. und 8. Jh.s. Roger Scott beschäftigt sich mit der Darstellung ökumenischer Konzilien in byzantinischen Chroniken und Averil Cameron wirft einen faszinierenden Blick auf fiktive Debatten in byzantinischen Texten, die in der Zeit der Infragestellung des überkommenen byzantinischen Selbstverständnisses durch die persische und arabische Expansion des 7. Jh.s verfasst wurden.
Zum Abschluss des Bandes schlagen Michael Slussers Untersuchung von Alois Grillmeyers Deutung altkirchlicher Christologie, Theresia Hainthalers Darstellung theologischer Dialoge mit altorientalischen Kirchen und Kari-Elisabeth Børrensens feministische Dekonstruktion der androzentrischen Anthropologie patristischer Quellen Brücken zu gegenwärtigen ökumenischen Diskussionen.
Alle Beiträge belegen, wie stark der kirchenhistorisch-sozialwissenschaftliche Ansatz der hochgeschätzten Forscherin im wissenschaftlichen Diskurs Aufnahme gefunden hat. Zugleich liegt mit dem Band eine für Kirchen- und Kulturhistoriker, Patristiker, By­zantinisten und Ökumeniker gleichermaßen relevante Sammlung zur Herausbildung und Transformation christlicher Identitäten von der neutestamentlichen Zeit bis in die Gegenwart vor.