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Ausgabe:

Oktober/2016

Spalte:

1119–1121

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Klek, Konrad

Titel/Untertitel:

Dein ist allein die Ehre. Johann Sebastian Bachs geistliche Kantaten erklärt. Bd. 1: Die Choralkantaten.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 360 S. Geb. EUR 19,90. ISBN 978-3-374-04038-4.

Rezensent:

Jochen Arnold

Dass Musik etwas mit Arithmetik zu tun hat – sprich: Töne sich als »klingende Zahlen« (z. B. aus Obertönen) erklären lassen, dürfte hinlänglich bekannt sein. Die Meinung, dass Zahlen der hermeneutische Schlüssel zum Glück sind, um die Musik eines der größten Komponisten der Musikgeschichte zu verstehen, teilen nicht alle. Von daher ist Konrad Kleks dreiteilige Publikation zu Bachs Kantaten unter dem schönen (nicht nur Bach’schen) Motto Dein ist allein die Ehre eine wichtige Ergänzung im reichhaltigen Angebot, das die Bachforschung zum Thema Kantaten schon »produziert« hat.
Vorab einige Bemerkungen zum Anspruch und Selbstverständnis der Arbeit des Erlanger Universitätsmusikdirektors, der auch Mitglied des dortigen Instituts für Praktische Theologie ist. Er akzentuiert seinen Zugang zu Bach bewusst theologisch und nimmt an etlichen Stellen den historisch orientierten zweiteiligen Bach-Kommentar Martin Petzoldts (Hauptbezugsquelle Johann Olearius) dankbar auf. Auf eine musikwissenschaftliche Analyse will K. jedoch auch nicht verzichten und beschreibt daher wie Dürr u. a. die musikalische Faktur (d. h. Tonart, Taktart, Besetzung usw.) einzelner Sätze knapp. Dies geschieht in gut verständlicher, manchmal unterhaltender, bisweilen gar salopper Sprache. Der besondere Charakter einzelner Kompositionen und Formen wird gut deutlich.
Der erste Band widmet sich den Choralkantaten, die bekanntlich in der Mehrzahl in einem Jahrgang, dem sogenannten zweiten Leipziger Kantatenjahrgang (1724/25) Bachs, entstanden sind. Die Konzentration auf Luthers Lieder ist dabei evident: Acht von 40 stammen vom Reformator, in den meisten Fällen auch die Melodie. K. stellt natürlich auch die in der Bachforschung heiß diskutierte Frage: Warum komponierte Bach keinen ganzen Jahrgang? Wieso bricht die Serie nach dem 25. März 1725 ab? Ist der Librettist verstorben? Oder ging Bach »die Luft aus«? Die pointierte These lautet: Nein. Bach schrieb bewusst »nur« 40 Kantaten. Er wollte zu seinem 40. Geburtstag am 21.3.1725 Buße tun.
Warum das? 40 ist eine biblisch hoch aufgeladene Zahl. 40 Jahre war das Volk Israel in der Wüste; 40 Tage wurde Jesus vom Teufel versucht; 40 Tage fastet die Kirche zwischen Aschermittwoch und Ostern. K. interpretiert die Zahl 40 also theologisch und unterstellt dem Komponisten eine innere Wendung zur Buße, auf die (in den Kantaten) häufig Tröstung bzw. Ermahnung zur Geduld folgt. Der Buchtitel impliziert also eine pointierte Deutung des Soli Deo Gloria als Bekenntnis Bachs: »Ich will mein Leben in allem Gott überlassen« (vgl. 21).
Doch nun zu dem, was das Buch spannend, aber auch problematisch erscheinen lässt: K.s auf Schritt und Tritt eingesetzte kabbalistische Deutung des musikalischen Materials (Takte, Melodietöne, Basstöne usw.). Leitend ist dabei das Prinzip des Zahlenalphabets, wonach Buchstaben als Zahlen gelesen werden, z. B. A=1, B=2 usw. Aus dem Wort Bach entsteht dann die Quersumme von 14 (=2+1+3+8). Schon etwas komplexer ist die Rechnung bei CHRISTUS. K. bekommt 112 (8x14) heraus, was dann funktioniert, wenn man I und J bzw. V und U als einen Buchstaben rechnet, was dann eine Zahl von 24 Buchstaben im Alphabet ergibt. K. schreibt zur Sache, er habe die Zahlensymbolik »nicht ausgeblendet«, obwohl sie »in der Fachwissenschaft« durchaus »umstritten« sei. Er habe dennoch »mutig, bisweilen kühn« (26) das formuliert, was sich ihm nach langer Beschäftigung mit der Materie aufgedrängt habe. Dazu nun einige Beispiele:
13 Takte in BWV 135,2 verweisen K. auf Psalm 13. Hier gibt es einen unstrittigen philologischen Bezug. Psalm 13 ist ein Klagelied des Einzelnen, wo man tatsächlich auch die Frage »Wie lange?« in der Ich-Klage findet. Wenn man die Zeilenzahl der Dichtung (mit etwas gutem Willen) auch auf 13 zählt, erscheint dies noch plausibler. Bei genauerem Hinsehen wird allerdings deutlich, dass es in Psalm 13 inhaltlich um die Klage eines Unschuldigen, d. h. gerade nicht um ein Sündenbekenntnis, geht, während BWV 135 deutlich in Richtung Buße (vgl. dazu eher Psalm 6; 32 oder gar 51) weist. Der Umgang mit der Zahl 13 ist auch deshalb schwierig, weil K. sie an anderer Stelle auch als Satans-Zahl (70) oder Zahl des Todes, dann aber auch wieder als Christuszahl (12 Stämme Israels und Messias) behandelt. Er räumt diese Spannung ein (25), lässt uns aber doch einigermaßen ratlos damit zurück. Wann gilt was?
Komplexer wird es mit der Zahl 40, die oft auch in ihren Vielfachen wahrgenommen wird, so etwa 400 Takte in Kantate BWV 2. Der 1. Satz soll – so K. – mit 167 Takten ein Drittel der ganzen Kantate umfassen. Dabei unterläuft dem Meister ein kleiner Rechenfehler: Ein Drittel von 400 wären doch sicher nur 133 Takte gewesen. Wichtiger Gegenstand der Untersuchung ist die Kantate O Ewigkeit, du Donnerwort (BWV 20), die den Jahrgang eröffnet. Hier zählt K. 40x10= 400 Takte. Die vorletzte Kantate des Jahrgangs (zu Estomihi als Beginn der Passionszeit) enthält 40x6=240 Takte (warum diese und nicht die Morgensternkantate BWV 1, die im Zyklus die letzte ist?). Beide Taktzahlen haben gekürzt mit 80 ein Verhältnis von 5:3. Dieses Verhältnis wird u. a. zur Bestimmung des Alten und Neuen herangezogen. Die Trennlinie verläuft dabei zwischen allen Kantaten vor und nach dem ersten Advent (25:15 also 5:3, auch goldener Schnitt!). Erstere haben zusammen 154x61 und Zweitere 104x61 Takte (warum 154:104?): Diese Tatsache interpretiert K. als Hinweis auf eine tiefere Bedeutung der Zahl 61. Diese findet er in Jesaja 61, jenem Text, den Jesus nach Lukas 4 in der Synagoge gelesen und ausgelegt hat. Inhaltlich macht das insofern Sinn, als hier vom Beginn eines Gnadenjahrs die Rede ist, in dem die Trauernden getröstet werden sollen (V. 2). Die Buße ist zu Ende. Bach spricht dadurch sich und seinen Zeitgenossen Gnade und Trost zu.
Eine weitere wichtige Rolle spielt die Zahl 153, die Zahl der Fische, die auf Geheiß des Auferstandenen nach Joh 21,11 aus dem See Genezareth gezogen werden. 153 ist ein Produkt aus 9x17, was allerhand Rechenfreude bei K. auslöst. Wenn in BWV 20,1 nach 459 (=3x153) Tönen eine Generalpause entsteht, so wird dies als »Symbolzahl für den Christusglauben« gedeutet (42).
Beinahe noch spektakulärer ist die Deutung des theologisch zentralen Soli Deo Gloria (S-D-G)-Motivs (=SDG) in BWV 107. SDG ergibt wie die Initialen JSB (!) in der Quersumme die Zahl 29: »Die Instrumente spielen 938=7x134 Töne, Äquivalent von SOLI DEO GLORIA. Die Spitzentöne g-fis-h der Oberstimme im Vorspiel markieren wieder die SDG-Tonfolge. Die Anrufung der Trinität in der separierten Kern-Lied-Zeile umfasst 29 SDG-Töne, hinzukommen 10x33 trinitarische Vokaltöne. So bis ins Detail präzise gestaltet, löst Bach die Verpflichtung zum Soli Deo Gloria all mein Leben lang hier paradigmatisch ein.« (71) Es tut mir leid, aber das verstehe ich einfach nicht.
Die Sprachgestalt der einzelnen Kantatensätze interessiert K. eher selten. So werden auch die Sprechakte der einzelnen Kantatensätze, die ja im Gottesdienst in Leipzig musiziert wurden, nur punktuell registriert. Bisweilen gelingt es ihm jedoch, die theologisch-musikalische Dramaturgie in der Abfolge der Sätze gut darzustellen, wenn etwa die Trias von Sündenbekenntnis (bzw. Klage), Zuspruch und Lob erkennbar wird (vgl. die Auslegung zu BWV 2,4, wo der göttliche Zuspruch schön mit einem Sonnenaufgang in Verbindung gebracht wird).
Insgesamt frage ich mich: Wann zählt K. Takte und wann zählt er Töne? Welche Töne sind ggf. relevant? Die Töne im Continuo, in den Singstimmen oder den Instrumenten? Wie lässt sich daraus ohne Weiteres ein Bezug zu biblischen Büchern bzw. theologischen Aussagen herstellen? Dazu noch ein Beispiel aus der Kantate Christ unser Herr zum Jordan kam (BWV 7). Hier zählt K. 1435 Töne, ein Produkt aus 41x35. Dies deutet er auf JSBACH, kein ganz ungewöhnliches Ergebnis. Doch was soll 35? Ah, das muss Jesaja sein!! In Jes 35 wird das Bild der endzeitlichen Erlösung aller Kreaturen beschrieben. Doch warum hier nicht Psalm 35 (Gebet um Errettung von boshaften Feinden) oder 1Mose 35 (Segen Gottes an Jakob in Beth-el)? Oder 2Mose 35 (Einsetzung der Stiftshütte)? – Biblische Kapitelzahlen sind sehr zufällig, sie besagen nicht viel. 61 Kapitel haben auch die Psalmen, 35 Kapitel gibt es in den drei großen Propheten und auch im ersten, zweiten und vierten Buch Moses.
K.s Systematik ist assoziativ, virtuos und in höchster Weise esoterisch. Es sind mir nur wenige Kollegen aus der Musikwissenschaft oder Theologie bekannt, die dergleichen pflegen. Wichtiger allerdings ist die Frage: Auf welche Äußerungen Bachs oder seiner Zeitgenossen kann sich diese Methode berufen? Viele andere Fragen bleiben deshalb offen: Gibt es innerhalb der Kantaten eine gedankliche Entwicklung? Bleiben sie einfach dem Proprium des Sonntags verpflichtet? Was ist mit den später entstandenen Choral-Kantaten (z. B. der zahlensymbolisch nun wirklich hoch relevanten BWV 129 zu Trinitatis)? Und noch viel wichtiger: Wie sollen die Kantaten im Gottesdienst heute inszeniert oder gar gepredigt werden? Das würde mich, weil K. dazu Maßgebliches geschrieben hat, wirklich interessieren.
Gleichwohl: Wer die dreiteilige Bach-Kantaten-Reihe K.s ohne das arithmetische Feuerwerk lesen will, kann trotzdem zahlreiche Dinge neu entdecken. Für Chorleiterinnen und Chorleiter ist das Buch eine wichtige Ergänzung zu Schulze und Dürr, da K. es versteht, das Wesentliche des Wort-Ton-Verhältnisses in verständliche, bisweilen amüsante Worte zu fassen.