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Ausgabe:

Oktober/2016

Spalte:

1105–1108

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Reinhardt, Volker

Titel/Untertitel:

Luther, der Ketzer. Rom und die Reformation.

Verlag:

München: C. H. Beck Verlag 2016. 352 S. m. 24 Abb. Geb. EUR 24,95. ISBN 978-3-406-68828-7.

Rezensent:

Ulrich Oelschläger

Mit seiner Monographie »Luther, der Ketzer« möchte der profunde Kenner des Renaissancepapsttums Volker Reinhardt das Reformationsgeschehen – vor allem die Auseinandersetzung zwischen der Kurie und Luther – aus der Sicht des Vatikan darstellen. Dabei suggeriert der von R. sicher autorisierte Klappentext, die Monographie zeige anhand »bisher vernachlässigter römischer Quellen, dass die wahren Gründe für die Glaubensspaltung jenseits der Glaubensfragen liegen«. R. möchte mit Hilfe römischer Quellen auch aufdecken, dass das protestantische Lutherbild und das seiner Begegnungen mit Rom »mythisch verklärt« seien.
Auf diesen Anspruch macht schon die äußere Aufmachung des Buches auf spektakuläre Weise aufmerksam, einmal durch den Titel, dann vor allem durch das ausgewählte Titelbild: einen Ausschnitt aus dem 1552 von Francesco Salviati für den Palazzo Farnese in Rom gemalten Fresko, mit dem der Maler die Ruhmestaten Alessandro Farneses, der sich Papst Paul III. nannte, verherrlicht. Der Ausschnitt zeigt Luther im Gespräch mit einem Prälaten so, wie römische Beschreibungen ihn charakterisieren, gedrungen, stiernackig und uneinsichtig. Mag diese äußere Aufmachung auch stimmig zur Darstellungsabsicht sein, so verlässt die Werbebanderole dann doch den Boden wissenschaftlicher Seriosität: »Geheimakte Luther. Vatikanische Quellen decken auf, was in der Reformation wirklich geschah«, wird darauf angekündigt, jedoch keine einzige Quelle neu erschlossen. Das Literaturverzeichnis enthält nur seit 1892 edierte Quellen, die Nuntiaturberichte, und die von Theodor Brieger und Paul Kalkoff seit 1884 edierten Depeschen des Nuntius Aleander u. a., die jedermann zugänglich sind und auch von anderen Reformationsforschern schon genutzt wurden (Thomas Kaufmann, Heinz Schilling). Insofern kann auch die Aussage (Einleitung, 13), die Berichterstattung Aleanders aus Worms 1521 sei bis heute nicht ausgewertet, so nicht stehenbleiben. Der Ausdruck »Geheimakte« in Verbindung mit »was wirklich geschah« macht neugierig und hat sicher zu einem breiten Presseecho beigetragen, wirklich Neues und Überraschendes in Bezug auf die Auseinandersetzung mit Luther wird jedoch nicht mitgeteilt.
Was das zum Teil spannende Buch dennoch lesenswert macht, ist die Vertiefung der römischen Perspektive, wie sie in den von Kalkoff edierten Depeschen Aleanders bereits ihren Ausdruck findet. Hier werden die edierten Quellen von einem Kenner der Geschichte des Renaissancepapsttums breit ausgewertet und werden die Ereignisse aus der Sicht des Vatikan detailreicher geschildert, als dies in den bisherigen meist protestantischen Darstellungen ge­schah. Anschaulich wird klar, wie wenig die römischen Akteure von Luther verstanden und wie sehr die kultivierten Italiener und Humanisten in ihm den nicht einmal ein gepflegtes Latein be-herrschenden Barbaren sahen. Auch die Lutherbegeisterung in Deutschland hat die römischen Akteure damals aufs Äußerste be­fremdet. Diese Aussage wird in den fünf Kapiteln des Buches detailliert entfaltet. In die historischen Angaben zu Luther schleichen sich hingegen auch Fehler ein. So war Luthers Predigtkirche in Wittenberg die Marienkirche (Stadtkirche), nicht die Schlosskirche (281). Leitfaden für die Darstellung ist Luthers Biographie.
So wird im ersten Kapitel unter dem Titel »Luther, der Mönch« der Lebensabschnitt von der Geburt (1483) bis zum Thesenanschlag (1517) unter die Lupe genommen. R. räumt zunächst mit der in den Tischreden gepflegten ideologisch motivierten Mythenbildung um Luthers Herkunft auf, um nach Schilderung von Bildungsweg und Klosterleben – nicht ohne bekannte psychologische Erklärungsmuster für Luthers Weg – umzuschwenken auf Rom und das Renaissancepapsttum, insbesondere auch einen kritischen Blick auf Papst Leo X. zu werfen. Hier wie auch in den späteren Kapiteln werden die Machtpolitik und vor allem die Familienpolitik der Medici (Leo X. und Clemens VII.) wie auch der Farnese (Paul III.), unterbrochen von der Charakteristik des Utrechters Hadrian VI., kritisch beschrieben, zweifellos eine Stärke der Monographie. So liegt auch der Schwerpunkt für den zweiten Abschnitt »Luther, der Kritiker«, der die Jahre 1517–1520 umfasst, auf der ausführlichen Darstellung der wachsenden Entfremdung zwischen Luther und den Gesprächspartnern (Prierias, Cajetan, Eck). Deutlich wird hier wie auch in den folgenden Kapiteln, wie sich das Verhältnis Luthers zur kirchlichen Obrigkeit zunehmend verschlechtert und Luthers Ton gegenüber dem Papst von der Gegenseite als anmaßend empfunden werden musste. R. macht in diesem Kapitel sowie in den folgenden auch deutlich, dass Luther von römischer Seite unterschätzt wurde und dass die Nuntien und Legaten aufgrund ihrer Wahrnehmung des Reformators seiner immensen Wirkung verständnislos gegenüberstanden.
Das dritte Kapitel macht durch die Überschrift »Luther, der Barbar« die Perspektive deutlich, in der die Auseinandersetzung auf dem Wormser Reichstag von 1521 durch R. gesehen wird. Unterstrichen wird dies durch 14 Abbildungen aus Thomas Murners »Von dem grossen lutherischen Narren« (1522). Dabei spielt die Sicht des päpstlichen Nuntius Aleandro – R. benutzt bezeichnenderweise konsequent die italienische Form des Namens – eine tragende Rolle. Luthers und Aleanders Sicht der Ereignisse in Worms werden in zwei Unterkapiteln verglichen. Den Fehleinschätzungen Aleanders, die kritisch analysiert werden, wird Luthers nach R.s Auffassung theologisch überhöhte Sehweise – nicht nur Luthers, sondern das Seelenheil aller stehe auf dem Spiel – gegenübergestellt. Auch hier wertet der Historiker Luthers Auftritt, z. B. seine Bitte um Bedenkzeit beim ersten Verhör, weitgehend als politische Taktik, durch kursächsische Berater beeinflusst. Mit der Würdigung der Bibelübersetzung Luthers und der Würdigung der Selbstkritik Hadrians VI. findet das Kapitel seinen Abschluss.
R. überscheibt das vierte Kapitel für den Zeitabschnitt von 1523–1534 mit »Luther, der Vergessene«. Das Kapitel gewährt einerseits einen aufschlussreichen Einblick in die päpstliche Politik, das risikoreiche Desinteresse Clemens’ VII. an der causa Lutheri, ande-rerseits wird Luthers Haltung im Bauernkrieg dargestellt sowie seine Familiengründung und die Polemik der Gegenseite dazu. Der Fokus des Kapitels liegt auf der Darstellung des politischen Ringens, so auf dem Streit um das vom Papst stets hinausgezögerte Konzil.
Das setzt sich im Schlusskapitel »Luther, der Ketzer« fort. Dieses Kapitel widmet sich vor allem der bereits vollzogenen Kirchenspaltung. Es schildert den Gewinn des dänischen Königs für die Reformation, die »abgrundtiefe Verachtung für alles, was Katholiken heilig war« (277), durch Philipp von Hessen, es beschreibt, dass die protestantische Seite, vor allem Luther selbst, an ihrer früheren Forderung nach einem Konzil nun nicht mehr festhält. R. stellt das Bemühen um eine Ordnung für die neue Kirche dar, Luthers Verfassen von Material zur christlichen Unterweisung (Kleiner Katechismus), die Bejahung der Arbeiten von Lucas Cranach im Gegensatz zur Ablehnung der Bilder durch die Schweizer Reformatoren. In dem Zusammenhang erwähnt er auch Luthers Lieddichtungen. Dabei erscheint R.s Verwendung des Ausdrucks »Indoktrination« in dem Zusammenhang nicht ganz passend. Anschaulich wird hier auch Luthers Begegnung mit dem päpstlichen Nuntius Pietro Paolo Vergerio geschildert, der später zum Luthertum übertrat. Lu­thers späte Jahre, die von Sorge, von Trauer um den frühen Tod seiner Tochter und von Krankheit gezeichnet sind, führen zu immer stärkeren Hasstiraden gegen das Papsttum, die Verkörperung des Antichristen.
Der Titel des Epilogs »Clash of Cultures« unterstreicht noch einmal die Darstellungsabsicht. Zwei Kulturen, das für Weltläufigkeit und humanistische Kultur stehende Rom und die eher provinzielle Welt des Reformators, prallen unversöhnlich aufeinander. Der knappe Blick in die Wirkungsgeschichte zeigt vor allem für die Moderne Defizite. So sind die Bemerkungen über die mangelnde Aktualität der Rechtfertigungslehre in der vorgetragenen Form theologisch kaum haltbar, ohne Beachtung des theologischen Diskurses dazu zumindest recht undifferenziert. Da passt das ab­schließende Zitat aus Thomas Manns »Deutschland und die Deutschen«, in denen der Dichter betont, er hätte nicht Luthers Tischgast sein mögen, schon besser in den Gesamtduktus. Zeittafel und Namenregister ergänzen eine insgesamt trotz einiger Kritik lesenswerte Monographie.