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Ausgabe:

Oktober/2016

Spalte:

1103–1105

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Oehmig, Stefan [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Buchdruck und Buchkultur im Wittenberg der Reformationszeit.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016. 363 S. = Schriften/Kataloge der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, 21. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-04078-0.

Rezensent:

Johannes Schilling

Dieses Buch präsentiert die Ergebnisse eines von der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt veranstalteten Symposions, das im März 2013 in Wittenberg stattfand. Der Herausgeber Stefan Oehmig hat seit vielen Jahren selbst wertvolle Beiträge zur Erforschung Wittenbergs verfasst – in diesem Band ist er mit einer kleinen Monographie über den Drucker Nickel Schirlentz vertreten (s. u.), die zu den substantiellen Beiträgen unter den versammelten Studien gehört.
Eröffnet wird das Buch von einem als Abendvortrag gehaltenen Beitrag von Thomas Kaufmann »Ohne Buchdruck keine Reformation«? (13–34), der, in Aufnahme eines Diktums von Bernd Moeller, in großen Zügen und gut dokumentiert Forschungsgeschichte, Forschungskontexte und Forschungsaufgaben formuliert – eine Übersicht, wie man sie sich als Auftakt zu diesem Thema nur wünschen kann.
Christoph Reske behandelt »Die Anfänge des Buchdrucks im vorreformatorischen Wittenberg« (35–69). Nikolaus Marschalk (seit 1502), Wolfgang Stöckel, Hermann Trebelius (bis 1505), Johannes Rhau(-Grunenberg) (seit 1508) und Symphorian Reinhart (seit 1509) waren die ersten Drucker in der Universitätsstadt, von denen sich nur Rhau-Grunenberg bis in die 1520er Jahre hielt.
Ulrich Bubenheimer stellt in »Reliquienfest und Ablass in Halle« nicht nur »Albrecht von Brandenburgs [sic] Werbemedien und die Gegenschriften Karlstadts und Luthers« (71–100) dar, sondern ediert auch einen Einblattdruck mit der Werbung des Stiftskapitels St. Moritz vom 19. August 1520 und eine Widmungsvorrede Karlstadts vom 21. September 1521 in gewohnt sorgfältiger Weise.
Martin Treu präsentiert »Lucas Cranach und Christian Döring als Wittenberger Verleger« in »Beobachtungen anhand der Sammlung C. G. Holtzhausen« (101–114). Er skizziert die Produktion der beiden Verleger, die ihr Geschäft vor allem in Luthers Bibelübersetzung sahen, und berichtet von dem Sammler Holtzhausen, der seine kostbare Sammlung von Wittenberger Drucken der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt übergeben hat – eine große Bereicherung für das Lutherhaus.
Stefan Oehmigs Beitrag über Schirlentz (»Gedruckt zu Wittemberg durch Nickel Schirlentz«. Zum Leben und Wirken des Wittenberger Reformationsdruckers Nickel Schirlentz; 115–167) behandelt zunächst dessen Drucke von Schriften Karlstadts. 1522/23 begann die Zusammenarbeit mit Luther, dessen Kleiner Katechismus »gewissermaßen zum ›Bestseller‹ seiner Wittenberger Offizin« (136) geriet. Und überhaupt war Schirlentz »in seiner Wirkungszeit einer der wichtigsten Multiplikatoren des reformatorischen Ge­dankenguts Wittenberger Prägung« (160), wie man aus Oehmigs Studie erst jetzt begründet ermessen kann. Auf das angekündigte (115, Anm. *) Verzeichnis sämtlicher Drucke aus seiner Offizin darf man gespannt sein.
Uwe Schirmer handelt, mit zum Teil neuen Belegen aus Archiven, über »Buchdruck und Buchhandel im Wittenberg des 16. Jh.s. Die Unternehmer Christian Döring, Hans Lufft und Samuel Selfisch« (169–189). Neben einer Zusammenfassung des Forschungsstandes gibt es hier u. a. auch Nachrichten über Bücher- (173 f.180) und Papierpreise (178) sowie die Vermögensverhältnisse Wittenberger Bürger (181). Während für den Buchdrucker Hans Lufft sein Gewerbe auskömmlich war, brachte es der Verleger Samuel Selfisch (1497–1565) zu bemerkenswertem Reichtum – Handel war auch im 16. Jh. einträglicher als Produzieren.
Jürgen Heidrich, »Georg Rhau als Wittenberger Musikaliendrucker und -verleger« (191–203) bietet einen Überblick, bleibt aber an manchen Stellen hinter dem Kenntnisstand zur Sache zurück.
Eberhard Nehlsen, der Großmeister der Erforschung der Liedflugschriften, stellt nach einer allgemeinen Einleitung »In Wittenberg gedruckte Liedflugschriften des 16. Jahrhunderts« (205–229) zusammen, insgesamt (nur) 27 zwischen 1530 und 1562, mit einem Höhepunkt im Jahr 1546 (14), samt einer mustergültigen Bibliographie (216–229). Warum es so gut wie keine Wittenberger Einblattdrucke und Liedflugschriften von Liedern Luthers gibt, vermag auch er nicht zu beantworten.
Thomas Fuchs geht es in »Wittenberger historiographische Drucke« (231–244) um »die Frage der Historisierung der Reformation als Grundproblem der Historiographiegeschichte des 16. Jahrhunderts« (231). Der Beitrag resümiert und ordnet die Wittenberger historiographischen Texte, für die Melanchthon die bestimmende Gestalt war und das Chronicon Carionis (zuerst 1532) mit 54 Ausgaben den ersten Platz einnahm, in die Geschichtsanschauung der Zeit ein.
Michael Schillings Beitrag über »Wittenberger Flugblätter Me­lanchthons in mediengeschichtlicher Perspektive« (245–260) stellt entsprechende Texte Melanchthons vor und thematisiert deren bisherige Vernachlässigung in der Forschung.
Ulrike Ludwig zeigt in ihrem reich dokumentierten Beitrag »Bi­bliotheken und Büchersammlungen an der Universität Wittenberg. Standorte und Benutzung im 16. Jahrhundert« (261–302) die herausragende Förderung der Bibliotheken in Wittenberg bis 1547 auf – angeblich umfasste die Bibliothek in diesem Jahr 3.132 Bücher (270). Neben der Bibliothek im Schloss gab es Büchersammlungen der Fakultäten und Kollegien; die verstreuten Nachrichten über dieselben trägt die Vfn. zusammen. 1598 wurde die zentrale Bibliothek im Collegium Augusteum eingerichtet. – Neben den Büchern geht es um das Personal, zuerst Georg Spalatin und seine Nachfolger, und um den Bibliotheksbetrieb, um Öffnungszeiten, Ausleihe und Ankaufsetat. Insgesamt erweist sich die Wittenberger Bibliothek in dieser Zeit als in mancher Hinsicht anderen Einrichtungen überlegen.
Hans-Peter Hasse, der gegenwärtig beste Kenner auf diesem Gebiet, stellt »Die Bibliothek eines calvinistischen Dissidenten in Wittenberg. Der Nachlass von Claudius Textor« (303–327) vor. Tex-tor, geboren 1538, aus Genf stammend, immatrikulierte sich 1564 in Wittenberg. 1573 wurde er Dozent für französische Sprache, er pflegte Beziehungen zu Theodore Beza. Hasse untersucht Textors Studentenstammbuch (Album amicorum; Wittenberg, Evangelisches Predigerseminar, Man. 24), in das zwischen 1563 und 1573 insgesamt 90 erhaltene Einträge gemacht wurden. Aus einem eigenhändigen Eintrag Textors wird seine Ablehnung der lutherischen Abendmahlslehre erkennbar. Im Streit um den Kryptocalvinismus in Sachsen gehörte er daher zu den gefährdeten Personen.
Andrew Pettegrees flächige und leider unzureichend, ja gelegentlich falsch übersetzte und deshalb missverständliche Darstellung »Druck und Reformation neu überdacht – ein Blick von außen« (329–347) ist nicht uninteressant, betont die »Marke Lu­ther«, die durch Nennung seines Namens und durch »Wittenberg« definiert ist, bleibt aber deutlich hinter der Qualität der Forschungsbeiträge zurück (auch die Literatur ist nicht auf dem neuesten Stand). Angekündigt wird eine St. Andrews-Datenbank zu Luthers Werken im 16. Jh. – hier wünscht man sich unbedingt Präzisionsarbeit.
Ein Verzeichnis der Abkürzungen und Siglen (349 f.) ist nützlich, willkommen das »Personen- und Ortsregister« (351–362), das freilich nicht ganz untadelig ist (Christus, Hesekiel, Jesaja und Jeremia gehören nicht in ein Personenregister; S. 240 handelt es sich um Joachim Camerarius d. Ä.), aber den reichen Inhalt des Bandes erschließen hilft. Von den geringen Versehen erwähne ich nur das sinnstörende »situm« – lies: sitim (321), den falschen Artikel »Das Traktat« (339) – lies: Der (sc. tractatus). Und die schlesische Stadt heißt Brieg (nicht Brigg, so 317.323).
Der Band enthält, wie gezeigt, Schwergewichte und lockere Beiträge, die die Erkenntnis weniger fördern oder gar hinter dem Stand zurückbleiben, den andere Beiträge ebendieses Bandes hergestellt haben. Hier hätte der Herausgeber eingreifen können. Insgesamt aber hat das Buch die Kenntnis des Gegenstandes bemerkenswert erweitert.