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Ausgabe:

Oktober/2016

Spalte:

1086–1088

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Söding, Thomas

Titel/Untertitel:

Nächstenliebe. Gottes Gebot als Verheißung und Anspruch.

Verlag:

Freiburg u. a.: Verlag Herder 2015. 416 S. Geb. EUR 26,99. ISBN 978-3-451-31567-1.

Rezensent:

Walter Klaiber

Thomas Söding, Lehrstuhlinhaber für Neues Testament an der Katholisch-theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, hat sich im Lauf seines Wegs als Exeget mehrfach mit dem Thema Liebe im Neuen Testament beschäftigt. Sein Buch über die Nächs­tenliebe ist eine eindrucksvolle Zusammenfassung dieser Arbeiten. Einerseits ist es im Gespräch mit der exegetischen Wissenschaft geschrieben. Die erfreulich knappen Endnoten weisen auf die neuere Literatur zum Thema hin, ohne sich auf längere Auseinandersetzungen mit abweichenden Meinungen einzulassen. Andererseits ist der Text so gehalten, dass auch theologische Laien ihn verstehen können. So ist zu hoffen, dass das Buch Beachtung über die Zunft des Exegeten hinaus findet.
Es beginnt mit Fragen zum Liebesgebot (9–28). S. zeigt auf, dass Nächstenliebe keineswegs so selbstverständlich ist, wie das oft be­hauptet wird, und referiert die psychologischen, politischen und theologischen Vorbehalte gegen das Gebot am Beispiel prominenter Vertreter. In der Zusammenfassung am Schluss wird er dann zeigen, wie die neutestamentliche Ethik diese Vorbehalte entkräftet (365 ff.).
Das nächste Kapitel, das Wortfeld der Liebe (29–44), arbeitet die Bedeutung der Wahl der Begriffe agapē und agapaō für die Liebesthematik in der griechischen Bibel heraus. In dem Kapitel Die Liebe Gottes – der Herzschlag biblischer Ethik (45–61) zeigt S. auf, wie die Zusage der Liebe Gottes die Grundlage für das Gebot der Nächs­-tenliebe darstellt.
Dann werden in lockerer Aufreihung die einzelnen Traditionskreise behandelt: Nächstenliebe im Alten Testamentein heiliges Gebot (62–81), Nächstenliebe im Judentum – ein ethischer Schatz (82–96), Gottesliebe und Nächstenliebe – das Doppelgebot in der Verkündigung Jesu (97–128) und – wegen der großen Bedeutung gesondert behandelt: Das Urbild der Nächstenliebe – der barmherzige Samariter (129–144) und Feindesliebe – die Intention der Bergpredigt (145–188). Dann folgen die neutestamentlichen Traditionen in kanonischer Reihenfolge: Bruderliebe – die johanneische Konzentration (189–229), wobei S. die Begrenzung auf die Brüder und Schwestern nicht als Ausdruck von Exklusivität, sondern als positive Hervorhebung derer betrachtet, die in der gegebenen Situation am nächs-ten sind. Weiter: Praktische Nächstenliebe – das urchristliche Ethos nach der Apostelgeschichte (230–242), Nächstenliebe als Erfüllung des Gesetzes – das paulinische Konzept (243–296), Nächstenliebe in Gottes Familie – das Modell der Paulusschule (297–313), Nächstenliebe gegenüber den Armen – der Impuls des Jakobusbriefes (314–324), Nächstenliebe in Bedrängnis – die Perspektive des Ersten Petrusbriefes (325–335), Liebe als Tugend – der Ansatz des Zweiten Petrus- und des Judasbriefes (336–341). Den Abschluss bildet eine umfangreiche Zusammenfassung Die Nächstenliebe – das Zentrum der christlichen Ethik (342–371). Dabei fällt auf, dass nicht nur die bekannten Stellen in der Jesustradition und bei Paulus sehr differenziert besprochen werden, an denen das Gebot der Nächstenliebe expressis verbis zitiert und ausgelegt wird, sondern auch Schriften behandelt werden, die nur indirekt von der Nächstenliebe sprechen. Das gibt der Darstellung eine große Weite.
Sein besonderes Profil erhält das Buch dadurch, dass mit Ausnahme des zweiten und dritten Kapitels jeder Abschnitt mit der Behandlung von sieben Fragen endet: 1. Wer ist der Nächste? 2. Was ist Nächstenliebe? 3. Wie zeigt sich Nächstenliebe? 4. Wer fordert die Nächstenliebe? 5. Wer ist zur Nächstenliebe aufgerufen? 6. Wie verhalten sich Nächstenliebe und Selbstliebe zueinander? 7. Welchen Stellenwert hat die Nächstenliebe? Sie sind auch der Leitfaden für die Schlusszusammenfassung. Dadurch ergibt sich eine eindrucksvolle Klarheit in der Darstellung. Allerdings fragt man sich, ob nicht manche der Fragen – insbesondere die sechste – die Aussagekraft der einen oder anderen Schrift überfordern. Umgekehrt ist es sehr hilfreich, dass S. bei seiner Auslegung nicht am Buchstaben der jeweiligen Texte klebt, sondern es wagt, durch weiterführende systematische Überlegungen ihr Sinnpotential weiter zu entfalten.
Interessant ist, dass S. der Wahl des Wortstammes agap-, der in Septuaginta und Neuem Testament fast ausschließlich für das Wortfeld Liebe/lieben steht, hohe Bedeutung zumisst und sich damit wieder der in der Zwischenzeit von vielen abgelehnten Position von Anders Nygren, Eros und Agape, 21957, nähert (37–41). Fragen kann man auch, ob nicht etwas stärker auf die Passagen in den biblischen Schriften hätte eingegangen werden müssen, die dem Gebot der Nächstenliebe zu widersprechen scheinen. Für das Alte Testament ist das in aller Kürze geschehen (76). Die massive Ketzerpolemik in 2Petr 2 oder Jud 8–16 wird dagegen nur kurz erwähnt (340), aber in ihrer Problematik wohl doch etwas verharmlost. Auch Gerichtsschilderungen wie in Offb 19,11–21 wären gerade angesichts der von S. für das ganze Neue Testament aufgezeigten hohen Bedeutung der Nächstenliebe erklärungsbedürftig.
Insgesamt aber stellt die Arbeit von S. auf beeindruckende Weise dar, in welcher Breite das Gebot der Nächstenliebe die ganze biblische Botschaft bestimmt. Und er bleibt nicht bei der Erhebung des biblischen Befunds stehen, sondern zeigt darüber hinaus die bleibende Bedeutung des Gebots und wichtige grundsätzliche Konsequenzen auf, die sich daraus für Kirche und einzelne Chris­ten ergeben. Man kann dem Buch nur viele Leser und Leserinnen wünschen.