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Ausgabe:

Oktober/2016

Spalte:

1082–1084

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Juschka, Katrin

Titel/Untertitel:

»Geheiligt werde dein Name«. Eine auslegungsgeschichtliche Untersuchung zur Namensheiligung im Vaterunser.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 672 S. m. Abb. = Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, 50. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-04072-8.

Rezensent:

Karl-Heinrich Ostmeyer

Katrin Juschka legt mit ihrer 670 Seiten starken Dissertation ein opulentes Werk zur Namensheiligung im Vaterunser vor. Inspiriert wurde die an der Universität Kassel entstandene Arbeit durch die Alttestamentlerin Ilse Müllner und betreut von Paul-Gerhard Klumbies.
Die Proportionierung des Buches scheint zunächst ungewöhnlich, erweist sich aber bald als der Sache angemessen. In dem mehr als ein Drittel umfassenden ersten Hauptteil (27–261) widmet sich J. der Forschungsgeschichte des 20. Jh.s. In sechs Unterabschnitten stellt J. Werk und Leben fast ausnahmslos männlicher deutschsprachiger Exegeten dar, die sich mit der Namensheiligung im Va­terunser beschäftigt haben. J. bettet die Ansätze der ausführlicher behandelten 39 Autoren in deren Biographie ein (hinzu kommt eine Reihe weiterer nicht in extenso berücksichtigter Exe-geten). Nicht erst bei in den 30er und 40er Jahren entstandenen Ar­beiten gelingt es J., den Zusammenhang von Zeitumständen und wissenschaft-licher Arbeit für ihre Fragestellung fruchtbar zu machen: Nicht wenige Ansätze und ihre Entstehung werden erst plausibel, wenn der jeweilige biographische Kontext mitberücksichtigt wird.
Theologinnen und Theologen und ihre Konzepte der Namensheiligung lassen sich in ihrer Entwicklung und Komplexität erst in der Rückschau auf deren gesamtes Leben und Schaffen würdigen. Daraus wird plausibel, dass lebende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nur am Rande zur Sprache kommen.
Zunächst nimmt J. die Autoren des Übergangs vom 19. zum 20. Jh. in den Blick (29–41). Das sich anschließende Kapitel ist Adolf von Harnack und den in Zustimmung und Abgrenzung von ihm be­einflussten Exegeten gewidmet (41–110). J. arbeitet die Wirkung der Marcion-Rezeption von Harnacks auf die Interpretation des Vaterunsers heraus: Seine Position und die von ihm für ursprünglich gehaltene Geistbitte bestimmten die weitere Diskussion.
Ein eigener Abschnitt behandelt die Vaterunserforschung zwischen den Weltkriegen (110–176). Es folgt eine Übersicht über die bis heute die Diskussion prägenden Persönlichkeiten und ihre Un­tersuchungen nach dem Zweiten Weltkrieg (177–261; z. B. E. Lohmeyer oder J. Jeremias und die mit seinem Namen verbundene Abba-Diskussion; 178–190.215–227). Abschließend geht J. auf zwei für den christlich-jüdischen Dialog bedeutende Autoren ein (246–261). J. entreißt etliche Theologen dem Vergessen und vermittelt einen Eindruck von der Vielfalt der Vaterunserforschung des vergangenen Jh.s.
Die folgenden etwa 200 Seiten des zweiten Hauptteils (263–471) werten die Forschungsgeschichte aus und beziehen dabei strukturierend die Wirkungsgeschichte mit ein.
Im ersten Abschnitt beschreibt J. die Namensheiligung als Heiligung des »Vaternamens« (264–329). Es folgt deren eschatologische (329–358) und ethische Interpretation (359–437). Kürzer wird auf Na­mensheiligung als Doxologie (438–447), auf die Frage nach dem Subjekt der Heiligung (447–454), auf die Heiligung durch den Tod Jesu (455–459), die sozialgeschichtliche Deutung (459–461) und die künstlerische Interpretation eingegangen (461–468). Die längeren Abschnitte haben jeweils eine eigene Zusammenfassung, und das ganze Kapitel schließt ein Fazit ab. J. kartographiert mit ihrer »Auswertung der Forschungsgeschichte unter Einbezug der Wirkungsgeschichte« die unübersichtliche Landschaft der Vaterunserforschung und bietet mit ih­ren Zuordnungen Orientierung.
Die Frage nach den Implikationen für den Ursprung des Vaterunsers behandelt J. in einem eigenen Exkurs (473–497) und diskutiert als Anwärter auf die Urheberschaft Jesus von Nazareth, die Ur­gemeinde, Johannes den Täufer und das zeitgenössische Judentum.
In ihrem »Exegetische Perspektiven« betitelten Kapitel (499–576) präsentiert J. eine eigene Untersuchung der Namensheiligung und des Vaterverständnisses bei Mt und Lk nebst »Arbeitsübersetzung« (500 f.) und Folgerungen. Das Schlusskapitel (577–588) bietet auf der Basis des Erarbeiteten unter anderem Hinweise für eine Umsetzung der Namensheiligung. Im Zusammenhang damit thematisiert sie das Beten des Vaterunsers in der Gegenwart (585 f.).
Auf der Basis ihrer Analysen kommt J. zu dem Ergebnis, das Vaterunser sei nicht auf die Endzeit bezogen (585). Ihre Auswertung in Sonderheit der Evangelien steckt einen Interpretationsrahmen ab. In ihnen sei eine Deutungsoffenheit für ein doxologisches, de­klaratorisches oder ethisches Verständnis bewusst gesetzt (471.585–587). J. versteht damit gegen den Mainstream die Namensheiligung im Vaterunser nicht trinitarisch, nicht christologisch oder als Heiligung des Vaternamens (586). Sie sieht einen engen Bezug zum Alten Testament und zum Judentum und bezeichnet Namensheiligung als Lebenshaltung (586). Das genaue »Wie« bleibe in den Evangelien bewusst unbestimmt (587).
Da im Laufe des vergangenen Jahrhunderts eine nicht unbedeutende Zahl der Theologen (und Theologinnen) sich zumindest zeitweise mit dem Vaterunser, der Namensproblematik oder der Vatermetapher beschäftigt hat, sind viele von denen, die in der Theologie Rang und Namen hatten und haben, bei J. versammelt. Und weil das Vaterunser nicht nur ein Herzstück der Theologie, sondern meist auch eine Herzensangelegenheit derer war, die sich ihm widmeten, fühlt J. mit ihrer in der Reihe »Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte« (ABG) erschienenen Monographie gleichsam der Theologie des 20. Jh.s den Puls.
Etwa die Hälfte des Werkes erscheint in Petit-Druck. Nicht selten füllen Fußnoten mehr als zwei Drittel der Seiten. Dabei kommt es immer wieder zu Redundanzen: Paraphrasiertes wird in Fußnoten zusätzlich zitiert, wo eine Stellenangabe genügt hätte. Als Re­zensent bin ich einerseits geneigt, die sehr ausführlichen Referate aus besprochenen Werken zu bemängeln: Hier hätte sich vieles kürzen lassen. Auf der anderen Seite wäre ich damit um für das Bild der behandelten Theologen nicht unbedeutende Lesefrüchte ge­bracht worden.
Das von J. vorgelegte Kompendium der Vaterunserforschung wird durch das vorangestellte detaillierte Inhaltsverzeichnis (7–11), ein 40-seitiges Literatur- und Quellenverzeichnis (589–629) sowie ein Personenregister, das leider nur die mehr als einmal genannten Namen erwähnt (631–636), zu einem brauchbaren Werkzeug weiterer Forschung. Bildpostkarten zum Thema vom Anfang des 20. Jh.s sind auf den letzten 34 Seiten dem Werk beigegeben.
J.s Dissertation schließt nach fast 600 Seiten Text zum Vaterunser im Allgemeinen und der Heiligung des Namens im Besonderen damit, dass eine angemessene Form im Umgang mit dem Namen auch dessen ehrfürchtiger Nichtgebrauch sei (587 f.), dabei orientiert sie sich u. a an D. Bonhoeffer (418 f.), M. Kiley (522) und A. Ruck-Schröder (520.522).
Das dürfte nicht das letzte Wort sein, doch hat J. mit ihrem Werk der zukünftigen Vaterunserforschung die Unschuld genommen. Exegetinnen und Exegeten werden von nun an nur noch schwer behaupten können, sie hätten nicht gewusst, dass ihre Idee oder ihr Ansatz in einem abgelegenen Aufsatz eines längst vergessenen Autors oder in einer Ergänzung zur dritten Auflage einer lange vergriffenen Monographie schon einmal publiziert wurde.
Es wäre zu begrüßen, wenn sich J. mit gleicher Akribie weiterer theologischer Fragestellungen annehmen würde.