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Ausgabe:

September/2016

Spalte:

989–992

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Edelbrock, Anke

Titel/Untertitel:

Mädchenbildung und Religion in Kaiserreich und Weimarer Republik. Eine Untersuchung zum evangelischen Religionsunterricht und zur Vereinsarbeit der Religionslehrerinnen.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2006. 504 S. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-7887-2152-7.

Rezensent:

Antje Roggenkamp

Die Tübinger Dissertation von Anke Edelbrock, für deren verspätete Besprechung allein die Rezensentin verantwortlich ist, beschäftigt sich mit Ansätzen und Konzepten der religiösen Mädchenbildung in Kaiserreich und Weimarer Republik. Der Studie liegen zwei Leitfragen zugrunde. Zum einen geht es um das Problem des geschlechtsspezifischen Religionsunterrichts als Frage nach einer entsprechenden Thematisierung in Erlassen und Lehrplänen, zum anderen um die Beteiligung von Frauen an dieser Diskussion – vor allem in Gestalt und auf den Foren der Lehrerinnenverbände ( 1f. 28).
Das Thema religiöser Mädchenbildung findet erst seit den 1980er Jahren in der religionspädagogischen Diskussion Beachtung. Die historische, sich auf Kaiserreich und Weimarer Repu-blik fokussierende Religionspädagogik (Wegenast, Bockwold, März, Meyer-Blanck, Zilleßen/Schröer etc.) habe die Frage eines ge­schlechtsspezifischen Unterrichts bis zum Erscheinen der vorliegenden Studie nicht beachtet. Die auf den Komplex der Mädchenbildung spezialisierte Religionspädagogik habe seit etwa 1980, vor allem aber seit Mitte der 1990er Jahre (Pithan) einzelne Studien zum Thema vorgelegt. Eine Durchsicht der pädagogischen Literatur ergibt, dass nur selten eine »Schnittmenge aller drei Themenkreise Erziehung/Bildung, Religion/Christentum und Mädchen/Frau« (25) vorliegt. In methodologischer Hinsicht geht es vor diesem Hintergrund zum einen um die Frauengeschichtsschreibung, d. h. um das Auffüllen entsprechender »Leerstellen«, zum anderen um die Geschlechtergeschichte, also um Fragen der Konstruktion von Ge­schlechterkategorien. Daher können die Grenzbereiche der Studie von vorherein benannt werden: Katholische Lehrpläne, private Mädchenschulen im Kaiserreich oder der Religionsunterricht an höheren Knabenschulen kommen ebenso wenig zur Sprache wie Schulbücher oder der internationale Vergleich, der helfen könnte, die Frage nach den spezifischen Merkmalen des deutschen Weges zu stellen. Die beiden Leitfragen werden in unterschiedlichen Etappen »beantwortet« (35–40).
Der unterschiedlichen Religiosität der Geschlechter widmet sich der erste Hauptteil. Dabei geht es zunächst um die Frage, ob und inwiefern diese überhaupt wahrgenommen worden ist. Die überwiegende Mehrzahl der Pädagogen wie Karl Haase und Theologen wie Ernst Achelis, Hans Richert, Friedrich Niebergall, aber auch Heinrich Weinel geht von einer religiösen Differenz der Geschlechter aus. Noch in den 1930er Jahren kann Weinel fordern, Mädchen nur von Religionslehrerinnen unterrichten zu lassen (48). Ähnliches gilt auch für religionspsychologische Ansätze, die sich Religionspädagogen wie Gerhard Bohne oder Rudolf Emlein zunehmend zu eigen machen. Dabei entwickeln sich vor allem mit Blick auf die Konfession wertvolle Unterscheidungen – so etwa wenn Friedrich Wilhelm Graf vorschlägt, zwischen konservativem Kulturluthertum, Ritschlianern und der Religionsgeschichtlichen Schule zu differenzieren (59).
Marie Martin und Helene Lange legen nahe, dass die von Männern geprägte Kultur durch Prinzipien wie die »geistige Mütterlichkeit« ergänzt werden müsse (60 f.). Demgegenüber wünscht Elisabeth Gnauck-Kühne eine bessere Bildung – auch in Hinblick auf die häuslichen Aufgaben der Frau. Sie begründet diese mit einer Formel, die später dank Helene Lange Schule machen soll: Frauen sind gleichwertig, aber andersartig bzw. nicht gleichartig (66). Während Clara Zetkin als Protagonistin der sozialistischen Frauenbewegung Religionsunterricht grundsätzlich ablehnt, haben andere eine positivere Haltung zur religiösen Bildung. So kann Louise Otto zu diese Zeit noch schöpfungstheologisch argumentieren, Elsbeth Krukenberg verweist auf das Wirken des Heiligen Geistes. Dabei wirkt sich der konfessionelle Faktor insgesamt dahingehend aus, dass zwar vergleichsweise wenig katholische Knaben die höheren Lehranstalten (21,3 % bei einem eigentlich erwarteten Bevölkerungsanteil von 36,5 %) besuchen. Im Volksschulbereich verhält es sich – wegen der Ordensschwestern – genau umgekehrt herum: Noch 1891 stehen 4853 katholische 3527 evangelischen Lehrerinnen gegenüber. Insofern die Ausbildung der Religiosität zu einem erklärten Ziel der Mädchenerziehung avanciert, stellt sich die Frage, ob dieses Ziel auch im Mädchenschulwesen greifbar wird.
Bei der Frage nach dem regelmäßigen Religionsunterricht für Mädchen verweist die Vfn. auf die Schulpflichtdiskussion. Zwar ha­be diese seit 1763 de jure bestanden, sich aber erst allmählich auch de facto durchgesetzt. Erhalten 1871 rund 92 % aller Kinder regelmäßigen Unterricht, so sind es 1882 an die 100 %.
1886 besuchen 2.416.203 Mädchen und 2.422.044 Jungen eine öffentliche Volksschule. Dabei mag sich zunehmend der Umstand auswirken, dass das Schulgeld für die Volksschule – seit 1888 definitiv – abgeschafft wird (88). Während in den Volksschulen bereits überwiegend koedukativ unterrichtet wird, sind die höheren Schulen geschlechtergetrennt. In der Weimarer Republik steigert sich zwischen 1921 und 1931 der Anteil der zum Abitur führenden Mädchenschulen von 10 % auf 60 %. Im Nationalsozialismus sind diese Schulen allerdings deutlich rückläufig und auch politisch nicht erwünscht. Spezifische Lehrpläne für die Mädchenschulen entstehen seit der Weimarer Konferenz von 1872, die als Ideal der Mädchenschulbildung Intellektualität, Gemüt und Willen in religiös-nationalem und realistisch-ästhetischem Sinne bestimmen. Die Berliner Denkschrift hingegen fordert 1873, dass in den ethischen Fächern Religion, Deutsch und Geschichte Frauen von Frauen zu unterrichten seien. Die Pläne des Minis-ters Bosse von 1894 verraten mit ihrem Insistieren auf der Gleichwertigkeit bei struktureller Andersartigkeit Helene Langes Handschrift. Noch 1908 allerdings werden nur die Studienanstalten (mit zwei Religionsstunden), nicht die Oberlyzeen (mit drei Religionsstunden) den höheren Lehranstalten für Knaben gleichgestellt. Erst 1922 ist die Stundenzahl identisch. Dabei zeigt insbesondere die Entwicklung der Richtlinien, dass die Frage der Geschlechterdifferenz für den Religionsunterricht breit diskutiert worden ist (143–152).
Der zweite Hauptteil beschäftigt sich mit der Frage nach der Lehrerinnenprofession und stellt dabei drei Verbände vor: Der Allgemeine Deutsche Lehrerinnenverein (ADLV), die Konferenz von Religionslehrerinnen (KvR) sowie den Verein für religiöse Erziehung (VrE). Dabei werden diese Vereine aus einer größeren Bandbreite an Vereinigungen ausgewählt, weil sie einer Reihe an Kriterien entsprechen: Es handelt sich um größere Vereine mit eigenem Verbandsorgan, die möglichst unterschiedliche Einstellungen (in diesem Falle konfessionslos, positiv und liberal) aufweisen und schließlich die Frauen als Subjekte zur Sprache kommen lassen (165 f.).
Der ADLV, der bei seiner Gründung 85 Mitglieder zählt, umfasst ein Jahr später 3279 Lehrerinnen. Er ist eigentlich neutral. Insofern seine Mitglieder mehrheitlich evangelisch sind, argumentieren die Mitglieder überwiegend aus evangelischer Perspektive – zugunsten des konfessionellen Religionsunterrichts. Eine ähnliche Haltung nimmt der ADLV zu den Schulerlassen ein, dabei ist Getrud Bäumer, die gemeinsam mit der 25 Jahre älteren Helene Lange den Verein führt, zwar gegen einen konfessionellen Religionsunterricht, allerdings auch gegen seine Abschaffung. Für sie stellt Reli gion eine anthropologische Grundbefindlichkeit dar. Insgesamt vergrößert sich der Einfluss des ADLV zunehmend. Er vertritt das Prinzip der geistigen Mütterlichkeit, diskutiert Frauenbildung und die Rolle der Religion, setzt sich aber schließlich für einen konfessionellen Religionsunterricht für alle ein (172–228, bes. 226–228).
Demgegenüber zeichnet sich der »positive« Religionslehrerinnenverein durch eine andere Strategie aus. 1905 in Göttingen als KvR gegründet, existiert er unter verschiedenen Namen (Verband evangelischer Religionslehrerinnen, Verband für evangelischen Religionsunterricht und Pädagogik) und mit unterschiedlichen Verbandsorganen (Mitteilungen, Verband evangelischer Religionslehrerinnen, Schule und Evangelium) bis zu seiner erzwungenen Auflösung 1939. Seit 1927 zieht man die Arbeit im geschlossenen Kreis dem öffentlichen Austausch vor. Die Konferenz setzt sich von vornherein für einen konfessionellen Religionsunterricht – insbesondere an den weiterführenden Schulen – ein, optiert aber für die Geschlechtertrennung und besitzt in Magdalene von Tiling eine »Anchorwoman«, die die Hingabe an die weibliche Eigenart propagiert. Dabei begründet von Tiling ihre Forderung nach besonderer Berücksichtigung der psychologischen Methodenfrage nicht »vom Kinde aus, sondern mit dem hohen Stellenwert der Bibel innerhalb der ›positiven‹ Theologie« (283). Darüber hinaus sei die Psyche der Mädchen zu berücksichtigen (229–292, bes. 288–292).
Das Ziel des 1908 in Bonn gegründeten VrE bestehe in einem der Religion und der Kinderseele entsprechenden Religionsunterricht. Die Blätter für religiöse Erziehung erscheinen 1919 zum letzten Mal, sie gehen in die Mitteilungen des 1921 zum Reichsbund für Religionsunterricht und religiöse Erziehung erweiterten ehemaligen Bundes für Religionsunterricht auf. 1932 werden die Mitteilungen wiederum in die Monatsschrift für evangelischen Religionsunterricht überführt. Dabei wird insgesamt großer Wert auf die Zusammenarbeit von Mutter und Lehrerin gelegt (297). Hatten sich die Frauen noch 1908 im Zusammenhang der neu entstehenden Lehrpläne intensiv mit der Frage nach Erteilung des Religionsunterrichts auseinandergesetzt, so erfolgt eine entsprechende Diskussion 1925 nicht mehr. Die Protagonistinnen des Verbandes, Ada Weinel und Carola Barth, vertreten im Großen und Ganzen ähnliche Auffassungen: keine geschlechtsspezifischen Differenzierungen mit Blick auf die Ziele des Religionsunterrichts, wohl aber Forderung nach Kindgemäßheit und Eingehen auf die spezifischen Bedürfnisse der Frauen (»weibliche Eigenart«, 376). Die subjektive Religiosität der Kinder steht im Zentrum, ein dogmatischer Religionsunterricht wird abgelehnt (293–381, bes. 377)
Ein Vergleich der drei Vereine ergibt, dass sich alle Protagonistinnen in besonderer Weise, wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten, für die Sittlichkeit der Frau als Ziel der Erziehung aussprechen (385 ff.). Darüber hinaus fallen folgende Ergebnisse ins Auge: Die Einrichtung eines speziell für Mädchen konzipierten Religionsunterrichts wird von Getrud Bäumer, Ada Weinel und Carola Barth abgelehnt, von Magdalene von Tiling befürwortet (392 f.). Gelegentlich werden auch – wie bei der späteren ALDV-Vorsitzenden Emmy Beckmann – Zwischentöne laut (395 f.). Die zweite Leitfrage kann dergestalt beantwortet werden, dass sich alle Diskutantinnen für einen Religionsunterricht von Mädchen eingesetzt haben (398). Die Stellungnahmen zu theologischen Programmen, Reformen im Religionsunterricht, Kirche im Religionsunterricht, dem Kind sowie Zukunftsfragen im Religionsunterricht und Ausbildungsfragen wurden allerdings je nach (kirchen)politischem Standort unterschiedlich beantwortet.
Zwar scheinen die verschiedenen Argumentationsformen der seit den 1980er Jahren geführten Diskussion den entsprechenden Positionen im Kaiserreich durchaus vergleichbar zu sein. Die religionspädagogischen Folgerungen sind dabei allerdings unterschiedlicher Art. Während für Magdalene von Tiling die »weibliche Eigenart« im Religionsunterricht gefördert werden solle, lehnt Gertrud Bäumer die Erhebung dieses Topos in den Rang von Bildungszielen grundsätzlich ab (417). Die Beschäftigung mit der Geschichte könnte also auch heute Ansatz zur Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie, d. h. vor allem mit Religion und Frömmigkeit werden.
Die Vfn. hat eine durchaus beeindruckende Studie zur Frage eines geschlechterdifferenten Religionsunterrichts, aber auch zu verschiedenen (Religions-)Lehrerverbänden vorgelegt und beide Ansätze sinnvoll miteinander verknüpft. Wenn sich die Re­zensentin gelegentlich auch eine stärkere Straffung der Darstellung gewünscht hätte, so haben die Ausführungen stellenweise lexikalisch gelehrten Handbuchcharakter. Es ist dem Buch auch zehn Jahre nach seinem Erscheinen zu wünschen, dass es mit dem Thema der religiösen Mädchenbildung auch weiterhin außerhalb des engeren Kreises der historischen Religionspädagogik seine Leser findet.