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Ausgabe:

September/2016

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kuratle, David, u. Christoph Morgenthaler

Titel/Untertitel:

Männerseelsorge. Impulse für eine gendersensible Beratungspraxis. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2015. 253 S. m. Abb. Kart. EUR 26,99. ISBN 978-3-17-028953-6.

Rezensent:

Reiner Knieling

Das Thema anzupacken, erfordert Mut. Dafür gebührt den Autoren Respekt und Dank. »Männerseelsorge« ist geprägt von einer großen Wertschätzung für die unterschiedlichen Biographien, Erfahrungen, Einstellungen, Haltungen und Orientierungen von Männern. David Kuratle arbeitet als Pfarrer und als systemischer Paar- und Familientherapeut in der Schweiz. Für Christoph Morgenthaler als emeritierten Schweizer Hochschullehrer sind Seelsorge und Pastoralpsychologie seit Jahrzehnten die beruflichen Schwerpunkte.
»Männerseelsorge« lebt von der reichen Erfahrung der beiden Autoren genauso wie von ihrer Beobachtungsgenauigkeit und Re­flexionssensibilität. Präzise dokumentierte und feinsinnig in­terpretierte Ausschnitte aus Seelsorgebegegnungen durchziehen das Buch und erden die pastoralpsychologischen und systemischen, theologischen und gendersensiblen Reflexionen.
Einen plausiblen und gangbaren Weg durch das Dickicht der Herausforderungen finden die Autoren in einer Seelsorge- und Beratungspraxis, die Männlichkeiten in ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit ernstnimmt und gleichermaßen auf die Gemeinsamkeiten und verbindenden Dimensionen von Männlichkeiten achtet. Die Autoren suchen einen Weg, auf dem sie die Bipolarität von Mann und Frau weder als einfach festgeschrieben hinnehmen und verstärken noch deren faktische Kraft leugnen oder übergehen. Sie nehmen Impulse aus der feministischen Seelsorge auf und setzen sich konstruktiv-kritisch mit Mannsein und Männlichkeiten auseinander, vor allem mit dem Dilemma zwischen konkretem Männerleben auf der einen Seite und verschiedenen Männlichkeitsanforderungen auf der anderen Seite, ganz gleich, ob Letztere hegemonialen oder mo­dern-gleichberechtigen Ursprungs sind. Die Autoren loten aus, wie Männlichkeiten und Weiblichkeiten als sozial konstruierte Ge­schlechter in Beziehung stehen zu »Unterschieden in sexueller Orientierung, Alter, Bildung, religiöser und ethnischer Zugehörigkeit und vielen weiteren Facetten von Identität« (49). Sie haben dabei im Blick, dass Identitätssuche nicht abschließbar ist.
Männerseelsorge verstehen die Autoren als Unterstützung von Männern und deren Umfeld in dieser Identitätssuche, als Raum, in dem vorhandene, prägende Bilder von Mannsein sichtbar und befragt werden können, in dem Annäherung an neue, ungewohnte, andere Bilder möglich wird, in dem Handlungsoptionen erweitert werden, in dem Freiheit und Recht entstehen, »ein Anderer zu werden« (107, mit Verweis auf D. Sölle). Letzteres verorten Kuratle und Morgenthaler ausdrücklich rechtfertigungstheologisch.
Der erste Teil des Buches ist von den Grundfragen geprägt: In welchem Sinne sind Seelsorge- und Beratungsgespräche mit Männern anders als mit Frauen? Und in welchem Sinne sind sie es nicht? Wie wirkt es sich aus, wenn die Seelsorger Männer sind?
Im zweiten Teil buchstabieren die Autoren zunächst grundlegende Methoden der Seelsorge- und Beratungspraxis im Hinblick auf Gespräche mit Männern durch. Dann wenden sie sich verschiedenen Praxisfeldern zu: Seelsorge mit Männern in der Gemeindearbeit, in der Paarberatung, in Krankenhaus und Pflegezentrum und schließlich Seelsorge mit Männern im Gefängnis. Was Seelsorge mit Männern in diesen unterschiedlichen Bereichen ausmacht, buchstabieren die Autoren konkret durch und eröffnen aus der genauen Wahrnehmung der Situation heraus neue, manchmal überraschende Handlungsmöglichkeiten. »Männerseelsorge be­deutet, mit Männern so zu diskutieren, Erfahrungen und Wissen auszutauschen, zu debattieren, zu streiten, zu blödeln und nachdenklich zu sein, wie sie es gewohnt sind und es ihnen Spass macht, und dabei auf neue Ideen zu kommen.« (127)
Am Beispiel der Trauer zeigen Kuratle und Morgenthaler, dass Männer teilweise andere Strategien der Verlustbewältigung haben, z. B.: »das Tun als Bewältigungsmodus, die Externalisierung von Gefühlen und inneren Prozessen und die kognitive Distanzierung von dem, was zu viel wird« (143). Den Autoren geht es darum, diese Art des Trauerns genauso ernst zu nehmen wie andere Arten. »Wenn sie gewürdigt sind, wird es möglich, dass Männer auch andere Seiten von sich offenbaren.« (Ebd.) Das ist das Prinzip, wie in jeder guten Seelsorge: wahrnehmen, sein lassen und sichtbar machen, was ist – eben auch das jeweils Männliche, ganz gleich wie typisch oder untypisch es ist –, und dabei nicht stehen bleiben, sondern den Blick öffnen für das, was sein könnte. Etwas davon ausprobieren, einen Geschmack dafür bekommen.
Dazu helfen auch biblische Geschichten. Die Unterschiede zu heutigen Erfahrungen weiten den Blick. Die Spannungen, die daraus entstehen mögen, locken in die Bewegung und zum nächsten Schritt. An der Emmaus-Geschichte zeigen die Autoren z. B., wie »situative, gebrochene, sich herstellende und wieder auflösende Formen von Männlichkeit [… gerade] in der Begegnung mit dem ganz Anderen […] möglich« werden (44). An anderen Stellen öffnet die Frage, was Gott denn zu dieser Situation sagen würde, die Perspektive über irdische Horizonte hinaus (zu den »Spirituellen In­terventionen«, vgl. 130–132).
Neben großer Zustimmung will ich nur wenige – mehr nachdenkliche als kritische – Anmerkungen machen: (1.) Dass die insgesamt hilfreichen Methodenauflistungen, die mehrfach zu finden sind (z. B. »Der Werkzeugkasten«, 112 f.), nicht in allen Einzelheiten männerspezifisch durchbuchstabiert werden, könnte man als kleinen Mangel werten. Ich verstehe die Listen aber lieber als Anregung zum eigenen Weiterdenken. (2.) Der Ton des Buches ist mir persönlich manchmal ein kleines bisschen zu feministisch und zu wenig kantig. Aber genau das halten die Autoren konsequent durch. Und sie regen mich als Leser damit mehr an, als wenn ich ebenden Ton finden würde, den ich selbst setze.
Ich könnte noch ergänzen: Dieses und jenes fehlt in dem Buch. Das wäre sicher richtig. Und es wäre doch wenig hilfreich. Wenn ein Buch in der Vielfalt des Lebens wurzelt, darf ihm nicht vorgeworfen werden, dass es auf ca. 250 Seiten nicht alle Facetten widerspiegelt. Das Buch bietet eine hervorragende Orientierung auf dem Feld der Männerseelsorge. Es zeigt viele konkrete Möglichkeiten einer männer- und gendersensiblen Seelsorgepraxis. Und es ist zum Glück nicht abgeschlossen, sondern offen für weitere Erkundungswege in der Praxis, für weitere männertheologische, männerkritische und männerkritisch-kritische Forschungen. Das gilt auch für die genaue Klärung dessen, was Männerseelsorge sein kann und was nicht.
Mit Blick auf das Layout durch den Verlag ist kritisch anzumerken, dass die Schriftgröße – insbesondere bei den dokumentierten Ge­sprächen – so gering ist, dass das Lesen unnötig mühsam ist. Der Inhalt hätte ein lesefreundlicheres Layout allemal verdient.
Insgesamt ist den Autoren ein inspirierendes, praxisorientiertes, sensibel reflektiertes und bewusst theologisch verortetes Buch gelungen. Es ist allen am Thema Interessierten nur zu empfehlen.