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Ausgabe:

September/2016

Spalte:

980–981

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Gräb, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Predigtlehre. Über religiöse Rede. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013. 350 S. m. 1 Abb. Kart. EUR 35,00. ISBN 978-3-525-62427-2.

Rezensent:

Christian Grethlein

1988 veröffentlichte Wilhelm Gräb seine Göttinger praktisch-theologische Habilitationsschrift »Predigt als Mitteilung des Glaubens« (besprochen in ThLZ 115 [1990], 63–65). Dabei wies der Untertitel bereits auf den umfassenden Anspruch hin: »Studien zu einer prinzipiellen Homiletik in praktischer Hinsicht«. 25 Jahre später nimmt er gegen Ende seiner aktiven akademischen Laufbahn die dabei offerierten »Lösungen« wieder auf und führt sie aus (36, Anm. 3). Stand in der Qualifikationsschrift noch die Auseinandersetzung mit prominenten homiletischen Konzepten im Vordergrund, so entfaltet der hier anzuzeigende Band einen praktisch-theologisch profilierten Gesamtentwurf, der den Gewährsleuten wie 1988 folgt und sich konzeptionell treu bleibt. Dass auch die Widmung an seine Frau am Beginn beider Bände steht, mag nicht zufällig sein. Erkennbar bewegt G. beim Thema Predigt nicht nur ein fachliches, sondern ein persönliches Anliegen.
Zweifellos liegt hier – neben den Predigtlehren von Albrecht Grözinger und Wilfried Engemann – ein dritter, kohärenter und auf jeden Fall beachtlicher zeitgenössischer Gesamtentwurf zur Homiletik vor. Mit dem Verständnis der Predigt als einer »religiösen Rede« will G. die Herausforderung sowie die Chance der Predigt in der Gegenwart aufnehmen, nämlich »die Sehnsucht der Menschen nach einer transzendent begründeten Lebensgewissheit […] in überzeugender Weise mit ihrer Rede vom Gott des Evangeliums in Verbindung zu bringen« (20). Der Band ist übersichtlich in drei Teile gegliedert.
Die Prolegomena »Die Predigt in der Kultur der Gegenwart« skizzieren die »homiletische Großwetterlage« (Ernst Lange, zitiert 15) und markieren zugleich die daraus erwachsenden Herausforderungen für die Predigt. Deutlich tritt hier u. a. eine Sympathie für das Konzept der Spiritualität hervor (21–23.159), insofern es ermöglicht, »die Menschen als Subjekte ihres Glaubens ernstzunehmen« (23). Kritisch steht G. dagegen dem Ablauf der Liturgie am Sonntagmorgen gegenüber. Deshalb blendet er auch bewusst Fragen der Liturgik aus – ohne sich allerdings mit der sonst in den letzten Jahren erarbeiteten Integration von Liturgik und Homiletik, etwa in der »Gottesdienstlehre« von Michael Meyer-Blanck, auseinanderzusetzen. Positiv gilt ihm – auf den Spuren Ernst Langes – die Kasualpredigt als Vorbild. Sie ist nämlich »dadurch, dass sie sich vom Predigtanlass her darauf einstellt, die Menschen in einer be­sonderen Situation ihres Lebens auf ihr religiöses Sinndeutungsinteresse anzusprechen, dazu bestimmt, als religiöse Rede realisiert zu werden« (27).
In der folgenden Grundlegung »Aspekte einer religionshermeneutischen Theologie und Praxis der Predigt« werden die zentralen Begriffe des Konzepts vorgestellt und in ihrer Bedeutung für das Predigen entfaltet. Es geht dabei um eine »religionshermeneutische Theologie des Predigens« (11). Ausgangspunkt ist die Annahme von »Religion« als einer »conditio humana« (45, Anm. 14), die in den Kontingenzerfahrungen jedes Menschen begründet ist – ohne allerdings von allen Menschen auch so wahrgenommen zu werden. Daraus folgt u. a., dass der Begriff »Deutung« an die Stelle von »Verkündigung« tritt: »Predigt ist religiöse Deutung von Erfahrung im Horizont der Deutungsgehalte und damit des religiösen Sinnpotenzials der biblischen Texte.« (52) Die biblischen Texte spielen dabei eine grundlegende Rolle, wenn sie symbolisch (Tillich) auf die jeweilige Situation bezogen werden und so den Zuhörenden eine religiöse Deutung ihres Lebens ermöglichen. Inhaltlich bildet die Rechtfertigungsbotschaft das Zentrum, so dass in der Predigt die »vorbehaltlose Anerkennung« (69) zugesagt wird. Große Bedeutung haben dabei die Predigenden, insofern sie die Subjekte der religiösen Rede sind. Um diese Aufgabe angemessen ausfüllen zu können, bedürfen sie eines intensiven Kontaktes mit der zeitgenössischen Kultur. Schließlich kommen die Hörenden nicht nur als Adressaten, sondern als »Subjekte der religiösen Rede« (75) in den Blick.
Der dritte, umfangreichste Teil »Durchführung« beschreibt in vier Durchgängen »Reflexionsperspektiven auf dem Weg zur Predigt«. Sie folgen aus dem in der Grundlegung Skizzierten, wobei – wie G. selbst einräumt – gewisse Redundanzen unvermeidbar waren: Zuerst geht es um das Interpretieren des biblischen Textes (»Homiletische Texthermeneutik«), es folgen das Verstehen von Religion (»Homiletische Religionshermeneutik«) sowie das Deuten des Lebens (»Homiletische Glaubenslehre«) und schließlich das Gestalten der Rede (»Homiletische Rhetorik«). Die Fülle der hier zusammengetragenen Hinweise, Einsichten und Auseinandersetzungen mit anderen Konzeptionen in diesem Teil sprengt bei Weitem den Rahmen einer Rezension. Durch die klare systematische Strukturierung und sich stets wiederholende Grundbegrifflichkeit ist aber stets eine gute Orientierung gegeben. Die klare Gliederung ermöglicht auch bei schon Bekanntem schnellere Lektüre. Ab­schließend sind dem Band vier Predigtbeispiele G.s beigegeben.
Neben der bewundernswerten systematischen Kraft des Werks ist besonders das Bemühen positiv hervorzuheben, in einer Zeit verbreiteter Predigtmüdigkeit das Predigen als eine Chance für Kirche herauszuarbeiten. Dass dies nicht allein ästhetische Einfälle, sondern sorgfältige begriffliche Arbeit erfordert, zeigt der Band eindrücklich. Freilich bleiben Fragen: So wird die Umstrittenheit des Religionsbegriffs nicht nur außerhalb der konfessionellen Theologien (und Deutschlands), sondern auch innerhalb der Theologie ausgeklammert. Nur tastend werden Zusammenhänge zwischen »Religion« und dem »Christlichen« angedeutet (etwa 67). Auch die aus früheren Arbeiten G.s übernommene Unterscheidung von Religion 1 und 2 (148 ff.) weist auf entsprechende Probleme hin. Weiter ist es für einen – erfreulicherweise – so stark kommunikativ engagierten Ansatz erstaunlich, dass neuere psychologische, mi­lieutheoretische und kommunikationstheoretische Einsichten keine erkennbare Rolle spielen. Kann tatsächlich so allgemein – wie im ersten programmatischen Satz des Buchs – behauptet werden: »Religion entsteht durch religiöse Ansprache.« (7)? In diesem Zu­sammenhang wäre auch die Ausblendung des liturgischen Kontextes kritisch zu bedenken. Schließlich stellt sich eine Frage zum Verständnis Praktischer Theologie. Sollte tatsächlich die Homiletik wieder so ins Zentrum dieses Fachs gerückt werden? Ist z. B. die zu­nehmende Aufmerksamkeit auf diakonisches Handeln – und dessen Attraktivität für viele der Menschen, die G. auch erreichen will– nur zufällig (und das Nebenprodukt schlechter Predigten)? Könnte es nicht sein, dass sich der Stellenwert der Predigt als Kommunikationsform im Ensemble der Kommunikation des Evangeliums verändert (hat)? Diese Fragen mindern aber in keiner Weise die große Leistung des vorliegenden Werks. Es kann Pfarrerinnen und Pfarrern wieder Mut machen, sich um das Predigen zu bemühen.