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Ausgabe:

September/2016

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Boothe, Brigitte [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Wenn doch nur – ach hätt ich bloß. Die Anatomie des Wunsches. 524 S. Zürich: Rüffer & Rub Sachbuchverlag 2013. Geb. EUR 35,20. ISBN 978-3-907625-63-7.

Rezensent:

Christian Jung

In diesem Sammelband hat Brigitte Boothe, ehemalige Lehrstuhlinhaberin für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Psychoanalyse am Psychologischen Institut der Universität Zürich, eine bunte Schar an Denkerinnen und Denkern zusammengeführt, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit der Thematik menschlicher Wunschvorstellungen beschäftigen. Dabei ist ein informatives und zugleich kurzweiliges Werk entstanden, das das Wünschen in seiner grundlegenden Bedeutung für das menschliche Leben und somit auch in seiner theoretischen Bedeutsamkeit zum Vorschein kommen lässt. Von den insgesamt 21 Beiträgen, die aus den Bereichen der Psychoanalyse, der Psychologie, der Neurowissenschaft, der Philosophie, der Theologie und der Literaturwissenschaft stammen, sollen im Folgenden drei vorgestellt werden.
In ihrem Beitrag »Schlafhüter und Muntermacher – Traum, Wunsch und die Kunst des Wartens« zeigen Brigitte Boothe und Dragica Stojkovic, dass wunscherfüllende Vorstellungen eine entlastende Wirkung haben können.
»Wer nicht gut lebt, kann doch vom guten Leben träumen. Wer Heimweh hat, dem kommen verklärte Bilder von damals in den Sinn. Wer Sorgen hat, dem entfährt der Seufzer: ›Wär’s doch schon vorbei!‹ Gewonnen ist auf diese Weise nichts für das praktische Leben. Der Heimwehkranke sitzt deprimiert herum. Der Sorgengeplagte läuft händeringend umher. Der Unglückliche stiert ins Glas. So traurig das ist, die Tränen tun wohl. Der faule Tagtraum ist nützlich: Er verschafft psychischen Komfort, wenn das Handeln nicht möglich oder nicht aussichtsreich ist.«
Eine besondere Stärke des Aufsatzes besteht m. E. in den vielfältigen Beispielen, die – teils an Freud orientiert, teils über Freud hinausgehend – vorgetragen werden. Im Anschluss an Freuds Programm der Traumgenese erinnern die Autorinnen z. B. daran, dass wunscherfüllende Vorstellungen zu einem erholsamen Schlaf beitragen. Mit ihrer Hilfe werden Schlafphasen gedehnt oder innere Spannungen reguliert. Abschließend halten Boothe und Stojkovic fest:
»Die Fähigkeit zu wünschen und die mentale Leistung der Evokation wunscherfüllender Szenarien in der Fantasie sind der Nährboden einer zugleich elementaren wie hoch entwickelten Fähigkeit, dem Leben Wert zu geben, und zwar in der suggestiven Kunst des Genießens.«
In ihrem Beitrag »›Protect me from what I want‹ – über destruktive Wünsche« beschäftigt sich die Sozialpsychologin Franziska Lamott mit Wünschen, die einen zerstörerischen Charakter haben. Dabei verweist sie vor allem auf Jacques Lacans Unterscheidung zwischen dem sexuellen Begehren (désir) und dem sexuellen Genießen (jouissance). Beide Phänomene basieren auf einer tiefgreifenden Mangelerfahrung, wobei das Begehren den erlittenen Mangel akzeptiert und auf der Ebene des Symbolischen bearbeitet, während das Genießen aus einer Unfähigkeit zur symbolischen Sublimierung des Mangels hervorgeht und zerstörerische Züge entwickelt. Be­zugnehmend auf die Thematik destruktiver Wünsche kann Lamott formulieren:
»Während das Begehren die Wunscherfüllung in der Schwebe hält und den Mangel konstruktiv verarbeitet, setzt sich das Genießen über das Verbot hinweg und schafft sich im perversen Modus hemmungslos sexuelle Befriedigung.«
Im weiteren Verlauf ihres Aufsatzes nennt Lamott Beispiele für den verschiedenartigen Umgang mit destruktiven Wünschen. Das Begehren betreffend verweist sie z. B. auf zeitgenössische Werke von Valie Export, Cindy Sherman oder Marina Abramovi. Hier werden destruktive Wünsche auf schockierende, oftmals pornographische Weise zur Darstellung gebracht. Die Darstellung ereignet sich jedoch im symbolischen Raum der Kunst. Sie entlarvt somit die Destruktivität des Gezeigten und bietet dem Betrachter die Möglichkeit zur kritischen Distanznahme. Das Genießen betreffend erinnert Lamott hingegen an Fotographien, die im Jahr 2004 an die Öffentlichkeit gelangten. Hierbei handelt es sich um Folterbilder aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis, die – wie Lamott festhält – eine erschreckende Ähnlichkeit zu den genannten Kunstwerken aufweisen, aber – im Unterschied zu diesen – gerade nicht im symbolischen Raum agieren, sondern gewaltsame Realität sind. Resümierend hält Lamott fest:
»Während im künstlerischen Akt Gewalterfahrungen in ein ›Drittes‹, ein Kunstwerk, transformiert werden, zerstört der in die Realität bruchlos umgesetzte gewalttätig pornografische Akt den symbolischen Raum.«
Eckhard Frick hält in seinem Beitrag »Der Wunsch nach Auferstehung des Leibes angesichts der Realität des Todes« verschiedene Spielarten der Auferstehungshoffnung nebeneinander. In einem Gang durch die Kulturgeschichte verweist er zunächst auf die jüdisch-christliche Tradition und stellt fest, dass »der biblische Glaube […] radikal diesseitig« ist. Zudem erinnert Frick daran, dass die biblische Rede von der Auferstehung keinen dualistischen Charakter hat. Es wird immer der Tod des ganzen Menschen gedacht, wenn auch zugleich eine Überwindung des Ganztodes in Form einer radikalen Neuwerdung des Individuums erhofft wird. Ganz anders verhält es sich in der griechischen Tradition. Hier prägt der Gedanke eines Leib-Seele-Dualismus die Auferstehungshoffnung. Der Leib des Menschen stirbt endgültig, nicht aber seine unsterbliche Seele, die als »Kontinuitätsträgerin« in Erscheinung tritt und die Fortexistenz des Individuums garantiert. Während der dualis-tischen Perspektive vorgeworfen werden kann, dass »die Radika-lität und Endgültigkeit des Todes unterlaufen wird und die Seele gleichsam aus eigener Kraft »überlebt«, ist bei der Vorstellung des Ganztodes zu fragen, welchen Sinn die Auferstehung haben soll, wenn keinerlei Kontinuität vorausgesetzt wird. Frick schreibt:
»Wenn ich im Tod völlig verschwinde, und bei der Auferstehung ein völlig neuer Mensch erschaffen wird, kann mich eine derartige Neuschöpfung interessieren, kann ich mir eine derartige Auferstehung wünschen? […] Bin ich es, der dann aufersteht, oder ist es ein Avatar, dem Gott meinen Namen gibt, der aber nichts mit mir zu tun hat?«
Doch Fricks Aufsatz erschöpft sich nicht nur in einer Beschreibung der bereits in den 70er Jahren beschriebenen Differenz zwischen dem jüdisch-christlichen und dem hellenistischen Auferstehungsgedanken, er bietet auch andere Zugänge. Abschließend beschreibt Frick z. B. den Auferstehungswunsch als Begehrensgeschehen. Orientiert an Emmanuel Levinas erscheint die Auferstehungshoffnung dabei als Folge einer höchst lebendigen, erotischen Ausrichtung des eigenen Daseins auf das Unendliche. Beispielhaft verweist Frick in diesem Zusammenhang auf die christliche Mystik oder die erotische Dichtung der Romantik.
Abschließend kann festgehalten werden: Der Sammelband hält, was er verspricht. Die enthaltenen Beiträge geben – nicht zuletzt aufgrund ihrer interdisziplinären Vielfalt – interessante Einblicke in das Phänomen menschlicher Wunschvorstellungen. Dabei erinnern sie daran, dass der Mensch ein wünschendes Tier ist. Ein Tier, das seine natürliche Begrenztheit offenhält und weitet, indem es sich immer wieder nach dem Unerreichbaren, dem Unendlichen ausstreckt.
Gerade für die theologische Diskussion enthalten die Beiträge m. E. viel Anregendes. Schließlich können beinahe alle Erzählungen der biblischen Überlieferung als Wunsch- bzw. Begehrenserzählungen gedeutet werden. Erzählungen, in denen die gesamte Bandbreite menschlicher Wünsche offenbar wird. Man denke nur an Adam und Eva und deren verhängnisvolle Sehnsucht nach der verbotenen Frucht. Man denke nur an den in die Jahre gekommenen David, der sich der verführerischen Silhouette Bathsebas nicht entziehen kann. Und man denke natürlich an den Wanderprediger Jesus, der nicht müde wurde, seinen unbedingten Traum von einem liebevollen Gott Wirklichkeit werden zu lassen.