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Ausgabe:

September/2016

Spalte:

961–964

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Endrik

Titel/Untertitel:

»Geduld in Erwartung«. Endzeitliche Neubegründung der Theologie in ihrer Einheit mit Philosophie und Dichtung durch Kierkegaard – Heidegger – Kafka.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2015. 783 S. = Forum Religionsphilosophie, 33. Kart. EUR 79,90. ISBN 978-3-643-12988-8.

Rezensent:

Hartmut Rosenau

Diese ambitionierte, umfangreiche und in mehrerer Hinsicht un­gewöhnliche Studie von Endrik Schmidt, einem der Schüler des emeritierten Wuppertaler Philosophieprofessors Wolfgang Janke mit Begleitung des Frankfurter systematischen Theologen Heiko Schulz, ebenfalls ein Janke-Schüler, über 25 Jahre hinweg entstanden (769), aber von vornherein nicht als akademische Qualifikationsarbeit konzipiert worden.
S. nimmt mit dem Obertitel seines Buches, das durchaus das Gewicht einer religionsphilosophischen Habilitationsschrift hat, programmatisch eine der »Erbauliche(n) Reden« Kierkegaards von 1844 auf, in der es anhand einer Auslegung des Bibeltextes Lk 2,33–40 um eine Profilierung der greisen Prophetin Hannah als Exis-tenzsymbol des spezifisch christlichen Glaubens in dialektischer Spannung zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit, Resignation und Erwartung, Enttäuschung und Erfüllung, Zweifel und Gewissheit geht. Schon S.s frühere philosophische Magister-Arbeit hat sich dieser Schrift Kierkegaards gewidmet. Nun erhält sie eine beson-dere systematische Bedeutung im weit gespannten Kontext einer postmetaphysischen »Neubegründung der Theologie« angesichts neuzeitlich festgestellter Gottesferne (Nietzsche) und apokalyp-tischer Endzeit-Deutungen. Und so, wie das Werk des religiösen Schriftstellers Kierkegaard in sich selbst schon Philosophie, Theologie und Dichtung zusammenführt, so sollen nun gerade in da­seinsanaly-tischer Perspektive logos, mythos und poiesis systematisch verbunden werden, um auch im Blick auf die verheerenden Ereignisse des 20. Jh.s (Holocaust) noch verantwortlich von Gott reden zu können (769 ff.). Dabei ist die Zusammenstellung von Kierkegaard, Heidegger und Kafka unter wirkungsgeschichtlichen Aspekten und persönlichen Vorlieben sicherlich legitim, dennoch bleibt sie kriteriologisch eigentümlich unausgewiesen (141). Das zeigen auch die vielen für sich je eindrücklichen Einzelinterpretationen, die wohl kumulativ, aber nicht immer in einem stringent argumentativ entwickelten Gedankengang ins Verhältnis zueinander ge­bracht werden.
Ungewöhnlich ist schon die Gliederung der Studie mit Blick auf den proportionalen Umfang der Teile: Einem 85-seitigen »Vorwort« folgt eine zweigeteilte »Einleitung« von über 450 Seiten ein vergleichsweise schmaler »Hauptteil« von etwa 130 Seiten. Der »Schluss-teil« von ca. 100 Seiten widmet sich dann ausschließlich einer beziehungsreichen Interpretation von Kafkas Erzählung »Ein Landarzt«, die ihrerseits nur etwa fünf Seiten umfasst und bei S. zur Deutung unserer »unglückseligsten« Zeit (682) der Gottesferne, der geistigen »Leere« (723) und des Verlustes des »alten Glaubens« (722) heran-gezogen wird. Wenn diese quantitativen Missverhältnisse nicht selbst schon ein implizites qualitatives Programm sein sollten – analog etwa zur Gliederung von Kierkegaards »Unwissenschaft-liche(r) Nachschrift« mit ihrer Ironisierung von Hegels Systemphilosophie –, so unterstreichen sie eben doch mehr den Charakter der einzelnen Teile als je für sich stehende Einzelstudien. Nicht nur gemessen am Umfang des Buches fällt das Literatur- bzw. Anmerkungsverzeichnis mit seinen drei Seiten frappierend schmal aus, sondern auch gemessen an S.s mit erstaunlicher Sicherheit vorgetragenen Urteilen z. B. über »die« (mangelnde) theologische Auseinandersetzung mit Nietzsche oder Kierkegaard, über »die« (oberflächliche) historisch-kritische Bibelexegese oder über »die« (irregeleitete) Kafka-Forschung. Auch das ist ungewöhnlich. Wäre die Studie eine akademische Qualifikationsschrift, dann müssten hier abwägende Differenzierungen und genauere Auseinandersetzungen mit Blick auf neuere und neueste Literatur vorgenommen werden. So aber bleibt das Buch frei von formalen wissenschaftlichen Standards allein auf das konzentriert, was S. aus tiefer persönlicher Überzeugung und Betroffenheit inhaltlich zu sagen hat. Und das ist provozierend wie bedenkenswert.
Die »Neubegründung« des christlichen Glaubens angesichts des von Nietzsche proklamierten Todes Gottes vor dem Hintergrund des gegenwärtig offensichtlich gewordenen Untergangs von Metaphysik und Moral (84 f.) erfolgt durch eine Besinnung auf den alttestamentlichen Glauben mit seiner »teleologischen Suspension des Ethischen«, wie sie Kierkegaard am Beispiel Abrahams (Gen 22) vorgezeichnet hat (2.103.213 ff.). Damit ist zugleich die Aufgabe gestellt, das traditionelle, aber religionskritisch hinfällig gewordene Rang-Gefüge von Zeit und Ewigkeit neu zu fassen (14). Denn was nun ansteht, ist der Glaube »an eine zeitlich-endliche Erfüllung des Selbst« (437 f.), der von der geduldig wartenden Hannah gleichsam als verbindende Brücke zwischen den Testamenten repräsentiert wird (553 ff.576). Wenn nun die Zeitlichkeit, Diesseitigkeit und Geschichtlichkeit existenztheologisch in den Vordergrund gerückt wird, dann müssen Zeichen und Spuren des Handelns Gottes in der Geschichte gedeutet werden, das entsprechend einer »teleologischen Suspension des Ethischen« sowohl als »heilbringend« als auch als »unheilvoll« wahrgenommen werden muss. Die von S. in dieser Perspektive vollzogene, mehr als befremdlich wirkende Deutung des Holocaust als apokalyptisches Strafhandeln Gottes (31 u. ö.) wird allerdings weder dem unermesslichen Leid der Opfer noch der tiefen Schuld der Täter noch dem ursprünglichen Sinn der Apokalyptik als letztlich wegen der bleibenden Ambivalenz von mehrdeutigen Zeichen der Zeit scheiternder Versuch, eine geschichtstheologische Antwort auf die Theodizeefrage zu finden, gerecht.
S. unterstellt damit »der« Theologie eine (apokalyptische) Offenbarungsgewissheit (379 f.), die es faktisch nicht gibt und prinzipiell auch nicht geben kann. Sie passt auch systematisch nicht zu der von S. feinfühlig am Vorbild Hannahs beschriebenen religiösen Haltung des offenen, geduldigen »Wartens« – in Aufnahme dieses doppeldeutigen Existenzials von Heidegger (344 ff.) –, die selbst nur eine präeschatische und keine »endzeitliche« sein kann. Sie vermag nur rückläufig Zeichen einer vergangenen Gottesnähe andenkend zu pflegen und vorläufig Zeichen einer erhofften künftigen, aber ge-r ade jetzt gegenwärtig nicht gegebenen Nähe Gottes zu deuten. Damit beschreibt S. angemessen die existenziale Aufgabe einer Theologie heute, die gerade in der Verbindung von Philosophie und Dichtung eine sich selbst relativierende, weisheitliche (sapientiale) ohne Ansprüche auf Letztbegründungen ist (338.342 ff.) und in-sofern nicht apokalyptisch-eschatologisch überhöht oder in ge­schichtstheologische Eindeutigkeiten überführt werden kann.
Statt einer von S. versuchten Vermittlung von Daseinsanalytik und Apokalyptik kann es hier sachlich wie methodisch nur ein »entweder – oder« geben, zumal die (abwegige) Deutung des Holocaust als apokalyptisches »Strafgericht« angesichts der Schuld einer »geistigen Selbstvernichtung« im Sinne einer Verfallenheit an Masse und Mann (777 f.) selbst wiederum moralische Kategorien bemüht, die für eine »Neubegründung« der Theologie auf dem Boden einer »teleologischen Suspension des Ethischen« ja gerade abgewiesen werden. Denn diese Formel besagt ja, dass das moralisch Gute im Verhältnis zu Gott nicht das Letzte und Maßgebende ist und dass das Verhältnis eines einzelnen Menschen zu Gott deswegen auch nicht durch das Allgemeine der sittlichen Instanzen (Familie, Gesellschaft, Staat, Kirche etc.) vermittelt wird. Vielmehr steht jede(r) Einzelne unmittelbar vor Gott. Darum gilt nun die Umkehrung des klassischen metaphysischen Grundsatzes in postmetaphysischer Zeit: Der Einzelne ist höher als das Allgemeine (214 ff.248), und Gott ist nicht länger in moralischen, allgemein verbindlichen Kategorien zu fassen (397). Wenn es aber nach S. im Anschluss an Kierkegaard so ist, dann kann auch das Allgemeine einer Weltgeschichte in apokalyptischer Deutung keine theologisch relevante Vermittlungsinstanz sein. Aus dem Geist der Apokalyptik kann dann nur noch der »Kampf gegen eine faktische Weltverfallenheit« (323) übernommen werden, aber nicht die apokalyptische Geschichtsdeutung als solche mit ihren fragwürdigen Applikationen auf gegenwärtige gesellschaftliche Zustände (350. 361 ff.). Schon Heidegger, der ja für viele von S.s Überlegungen ein Gewährsmann ist, hat in seinen frühen Vorlesungen über die Phänomenologie des religiösen Lebens von Geschichtstheorien jeder Art Abstand genommen. Denn sie wollen dem ungesicherten menschlichen Dasein eine (theoretisch abkünftige) Sicherung in übergeordneten Sinnzusammenhängen geben, die die ursprüngliche Bedeutung des Existierens verdecken.
Was ist dann das Neue in S.s Vorzeichnung einer »Neubegründung« der Theologie? Nicht die apokalyptische Form einer »Theologie nach Auschwitz«, sondern die daseinsanalytisch hergeleitete »Ablösung der Moral vom Christentum vor Gott« (401) – denn nach Nietzsches Diktum ist nur der moralische Gott im Kontext eines platonischen Christentums widerlegt und »tot«. Das kann natürlich nicht heißen, dass »Gott« nun von religiösen Fanatikern für die Legitimierung von Menschen verachtender Unmoral in Anspruch genommen werden kann, wohl aber, dass Gott als eine transmoralische Instanz vorgestellt werden muss, wie sie vor allem in späteren alttestamentlichen Weisheitsschriften (Hiob-Dichtung und Kohelet) zur existenztheologischen Deutung von Lebensrätseln und Lebensordnungen hier und jetzt »wartend« thematisiert worden ist. Theologie nimmt dann nicht für sich in Anspruch, Zeichen des eschatischen Heils oder Unheils, wohl aber des weltimmanenten Segens und seiner Gefährdungen wahrzunehmen. Dazu vermag S.s Studie einen wertvollen Beitrag zu leisten.