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Ausgabe:

September/2016

Spalte:

891–893

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Schumann, Daniel

Titel/Untertitel:

Die Tosefta. Seder III: Naschim. 2: Nedarim – Nezirut. Übersetzung und Erklärung.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2014. VII, 228 S. = Rabbinische Texte. Erste Reihe, III/2. Lw. EUR 219,99. ISBN 978-3-17-023642-4.

Rezensent:

Andreas Lehnardt

Der Band von Daniel Schumann bietet die kommentierten Übersetzungen zweiter Traktate der Tosefta aus der dritten Ordnung Naschim (Frauen) und setzt die von K. H. Rengstorf (1967) initi-ierte, von Günter Mayer übernommene Reihe deutscher kommentierter Übersetzungen dieses Werkes der tannaitischen Literatur fort. Die Tosefta (»Zusatz«) setzt wohl einen Text der Mischna voraus, der jedoch nicht mit der heute verbreiteten Mischna (in ihren babylonischen und palästinischen Rezensionen) übereinstimmt. Der Bearbeiter dieses Bandes hat bereits einen der beiden Traktate der Mischna für die von Michael Krupp herausgegebene textkri-tische Ausgabe mit deutscher Übersetzung vorgelegt (Nedarim, Gelübde. Lee Achim Sefarim: Ein Karem, Jerusalem 2009, ohne hebräischen Text auch im Verlag der Weltreligionen, Berlin 2010), und daher ist es zu begrüßen, dass er nun auch die Tosefta bearbeitet und zudem einen weiteren Traktat übernommen hat.
Der Tosefta-Traktat Nedarim handelt wie der Massekhet der Mischna (unter Bezug auf Num 30) von Gelübden, d. h., es wird erläutert, wie sie formuliert werden sollen und welche rechtlichen Bestimmungen etwa bei ihrer Aufhebung zu beachten sind: Es geht etwa um Gelübde, durch welche ein Anderer von Eigentum ausgeschlossen werden kann, und um solche, durch die vom Eigentum des Anderen ausgeschlossen werden kann. Ferner handelt der Traktat vom Umfang eines Gattungsbegriffs, den man sich durch ein Gelübde versagt. Etwa auch vom »Qorban«-Gelübde, einem Gelübde mit Einschränkungen. Ein weiteres Kapitel behandelt u. a. die Frage, was zu beachten ist, wenn fremde Gegenstände, die man sich versagt, vorher durch Erbe oder Geschenk zum Eigentum geworden sind. Die Auflösung von Gelübden einer Verlobten von Seiten des Vaters oder des Mannes werden ebenso behandelt wie die Frage, welche Gelübde der Frau durch den Ehemann gelöst werden können und müssen (vgl. Num 31,3). Auch die Aufhebung von Gelübden durch Rabbinen ist Gegenstand der Erläuterungen.
Der inhaltlich damit eng verbundene Traktat Nesirot handelt von den speziellen Nasiräer-Gelübden, die sich nach Num 6 etwa auf die zeitlich begrenzte Enthaltsamkeit von Wein beziehen können. Der Ehemann kann ein solches Gelübde für seine Frau lösen. Insgesamt behandelt der Traktat die Ausdrücke des Nasiräer-Gelübdes, bedingte oder eingeschränkte Nasiräer-Gelübde und die Frage der Übernahme mehrerer Nasiräate sowie die gemeinschaftliche Übernahme von Nasiräaten von mehreren Personen oder von einem Mann und von einer Frau. Ebenso wird die Auflösung des Nasiräats der Ehefrau durch den Ehemann erläutert. Kultische Unreinheiten können das Nasiräat außer Kraft setzen, etwa wenn Aussatz festgestellt wird.
Die literarische Theorie, die hinter der vorliegenden Übersetzung dieser beiden Tosefta-Traktate steht, wird in den Anmerkungen deutlich: »die T[osefta] erweitert M[ischna]« (45, Anm. 127). D. h., die Tosefta wird traditionell als »Zusatz« zur Mischna verstanden, was jedoch in der neueren Tosefta-Forschung (Dineke Houtman, Judith Hauptmann) unterschiedlich beurteilt wird und im Hinblick auf viele Traktate (oder zumindest einzelne Mishnayot darin) als widerlegt gelten muss (siehe dazu vor allem die hebräischsprachigen Studien von Shamma Friedman). Häufig erweist sich die Mischna Rabbis in ihren babylonischen und palästinischen Rezensionen vielmehr als Kürzung oder Bearbeitung, nicht als Grundlage einer »Ergänzung«. In den Anmerkungen zu der vorliegenden Übersetzung wird jedoch dieser Befund stets anders dargestellt und die Tosefta als Hinzufügung oder Ergänzung interpretiert (siehe auch im Vorwort, 3 und 95, Anm. 98). Dieses traditionelle Deutungsmuster steht jedoch an vielen Stellen in Frage und man sollte wenigstens erwähnen, dass es andere Interpretationsmuster für die meisten der übersetzten Traktate (bzw. einzelner Texte darin) gibt (siehe zuletzt auch Robert Brody, Mishnah and Tosefta Studies, Jerusalem 2014).
Der Kommentar zu den vorliegenden Übersetzungen trägt vor allem zahlreiche Sachinformationen zusammen, erörtert aber nur am Rande das Verhältnis zu den übrigen Parallelen in der rabbinischen Überlieferung, die zum Teil stark abweichen. Vgl. dazu etwa die Übersetzung von tNedarim 2,8, wo die eigentliche Spitze der Aussage der Tosefta erst aus einem Vergleich mit der Mischna und ihrer unterschiedlichen Interpretationen in den Gemarot erkennbar wird. Insgesamt hätte dabei auch eine Einbeziehung des grundlegenden Kommentars von Saul Lieberman, Tosefta ki-fshutah, Jerusalem, New York 1995 (Hebräisch) (zu tNedarim 2,8, 430) weiterführen können. Auch einige textkritische Anmerkungen aus dem Kommentar Liebermans bleiben daher unberücksichtigt: z. B. 77 zu den Lesarten zu dem Satz: »Man eröffnet einem Mann [einen Ausweg] …«. Siehe Tosefta ki-fshuta, 475; oder zu tNedarim 4,7, wo von »‛amaqim« (»Talebene«) die Rede ist, in die im Sommer herabgestiegen wird. Besonders schwierig ist der Vergleich mit den zahlreichen abweichenden Lesarten zu Pereq 8 im Traktat Nazir. Insbesondere im Yerushalmi ist hier manche schwierige Lesart zu be­rücksichtigen.
Der Anmerkungsapparat ist im Vergleich zu früheren Bänden der Reihe stark angewachsen. Auch kommt es zu Doppelungen innerhalb des Bandes, die sich durch Querverweise hätten vermeiden lassen, wodurch der Apparat insgesamt knapper hätte ausfallen können.
Kurze Hinweise: S. 62, Anm. 51 wird auf eine Parallele in bNed 55a Bar verwiesen, gemeint ist aber wohl yNaz 55b, 49-55. Problematisch erscheint die Berücksichtigung der stark verderbten Parallelen im Yerushalmi zu Nazirut (Nezirim) in Pereq 8. Hier ist die Parallele im Yerushalmi schlecht überliefert, bedarf aber dennoch einer genauen Berücksichtigung bei der Rekonstruktion des Textes. Der Terminus »Ma‛ase« wird im Kontext einer halakhischen Diskussion mit »Geschehnis« übersetzt (72), es handelt sich jedoch wohl eher um einen »Tatfall«, der beispielhaft auf einen Mann verweist, der seiner Frau auferlegte, nicht nach Jerusalem hinaufzusteigen, die aber dennoch hinaufgegangen war. Einige Male finden sich Hinweise auf handschriftliche Lesarten der Substitute des Tetragramms durch YY oder YYY. Da dies in mittelalterlichen Manuskripten rabbinischer Literatur sehr verbreitet ist, haben diese Hinweise jedoch kaum textkritischen Wert. Ein einzelnes, aus der sogenannten »Italienischen Geniza« stammendes Einbandfragment (E2) wird als »Genizafragment« bezeichnet. Es entsteht so der Eindruck, es handele sich um einen Textzeugen aus der berühmten Kairoer Geniza (oder aus einer anderen Geniza). Tatsächlich ist das Fragment in einem Buchdeckel in einer italienischen Bibliothek überliefert worden.
Insgesamt sind die Übersetzungen sorgfältig gearbeitet und zuverlässig. Der Kommentar und vor allem die darin erwähnte moderne Fachliteratur erscheinen gelegentlich überbordend und gehen nur teilweise auf die bislang in den wissenschaftlichen Kommentaren diskutierten Fragen ein.