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Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

834–837

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Willaschek, Marcus, Stolzenberg, Jürgen, Mohr, Georg, u. Stefano Bacin[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kant-Lexikon. 3 Bde.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2015. Zus. XIV, 2880 S. Geb. EUR 349,00. ISBN 978-3-11-017259-1.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Kant-Lexika haben eine lange Tradition, die mit der zu Missverständnissen führenden neuen philosophischen Terminologie zu­sammenhängen, die Kant mit der Kritik der reinen Vernunft (1781) einzuführen beginnt. Karl Christian Erhard Schmid (1761–1812) veröffentlicht das erste Nachschlagewerk bereits 1786 als Ergänzung seines Kompendiums der Kritischen Philosophie, das dann ab 1788 als eigenständiges Wörterbuch in drei Auflagen bis 1798 publiziert wird. Von 1797 bis 1804 erscheint das bedeutende Encyclopädische Wörterbuch der Kritischen Philosophie von Georg Samuel Mellin (1755–1825) in sechs Bänden. Vor hundert Jahren hat Rudolf Eisler (1873–1926) das bis vor kurzem maßgebliche Kant-Lexikon ab­geschlossen, das erst 1930 von Helmut Kuhn (1899–1991) nach notwendigen Korrekturen und Ergänzungen herausgegeben werden konnte und von dem der Olms-Verlag ab 1961 zahlreiche un­veränderte Nachdrucke aufgelegt hat.
Während Eisler die Lemmata seines Lexikons durch philosophisch bedeutsame Zitate und Paraphrasen Kants erläutert und die Kant-Ausgabe der Philophischen Bibliothek des Felix Meiner-Verlages zugrunde gelegt hat, geht das neue Lexikon einen anderen Weg. Hier wird Kant nach der sogenannten Akademie-Ausgabe zitiert und es werden nicht nur – wie bei Eisler – die Termini Kants als Lemmata aufgeführt, sondern auch Personennamen, Kants Schriften und die Periodika, in denen er publiziert hat.
Die Artikel zu den Termini enthalten zuerst die Definition und benennen weitere wichtige Stellen der entsprechenden Begriffe. Dann werden die verwandten Stichworte aufgeführt, was wichtig ist, da die Artikel bei Kants Terminologie und nicht bei Sachthemen ansetzen. Wenn nötig, wie z. B. in dem Artikel Autonomie der reinen Vernunft (127–135), werden die Vorgeschichte der Begriffes und dessen historischer Kontext dargestellt. Dem schließt sich eine genaue Darstellung der philosophischen Funktion des Begriffes bei Kant an. Um bei diesem Beispiel zu bleiben, wird nicht nur die Problemstellung der Antinomie der reinen Vernunft erörtert, sondern es werden auch die Thesen der vier Antinomien und der Beweis der jeweiligen These rekonstruiert. Dann folgt die Auflösung der Antinomie. Der Artikel wird mit der Darstellung der gegenwärtigen Interpretationslage und Hinweisen auf die wichtigste weiterführende Literatur abgeschlossen. Dieses aufwendige Verfahren er­möglicht es, sowohl die Entwicklung des Denkens Kants als auch die systematische Funktion der jeweiligen Termini in seiner Philosophie nachzuvollziehen. So wird in höchster Genauigkeit der ar­gumentative Denkweg Kants rekonstruiert und gleichzeitig der Anschluss an die gegenwärtige Interpretationslage in ihrer Breite hergestellt.
Oder der Sachverhalt der Freiheit, dem insgesamt acht Lemmata gewidmet sind (632–642), wird umfassend vermessen, da Kant ihn nicht als unbegrenzte Willensfreiheit versteht, sondern als Bestimmung zum Handeln wegen der Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft. Die Freiheit transzendiert die Erscheinungswelt, da sie in keiner Wahrnehmung gegeben ist. Ihre Objektivität erweist sich so als ratio essendi des reinen praktischen Vernunftgesetzes.
Ein letztes Beispiel für ein wichtiges Stichwort der Philosophie ist die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori. Diese schwierige Frage, ob man durch reines Nachdenken, ohne sich auf Erfahrung, also letztlich auf Wahrnehmung, berufen zu können, etwas über die Elemente und Strukturen der Wirklichkeit wissen kann, wird nicht nur in dem Artikel zur Kritik der reinen Vernunft (1323–1340) hinsichtlich der theoretischen Erkenntnis erwogen, sondern auch hinsichtlich der praktischen Erkenntnis im Artikel zur Kritik der praktischen Vernunft (1315–1323) und hinsichtlich der ästhetischen Urteile im Artikel zur Kritik der Urteilskraft (1341–1349); außerdem in der Breite der Stichworte Analyse (63–65), analytisch/synthetisch (86–88), Methode, analytische/synthetische (1570–1573), Synthesis (2228–2231), Urteil, analytisches/ synthetisches (2428–2431), Urteil, synthetisches a priori (2436–2438). So durchdringen sich die einzelnen Artikel und eröffnen tiefe Einblicke in die Denkwelt Kants.
Die zweite Artikelgruppe, die der Personennamen, stellt nach den biographischen Angaben die Relevanz der jeweiligen Person für Kant und seine Philosophie dar. Da nicht nur die in seinen Werken benannten Personen berücksichtigt worden sind, sondern auch seine Korrespondenzpartner und Verleger, entdeckt man neben vielen bekannten Namen die vieler heute vergessener Personen. Dies trägt sehr gut dazu bei, das vielfältige Meinungsspektrum zur Zeit der Aufklärung deutlich zu machen. Aber auch die Artikel zu den Philosophen sind für die Konturierung Kants sehr interessant. Hier nur wenige Beispiele: So wird die große Bedeutung Platons für Kants Entwicklung seiner Transzendentalphilosophie dargelegt (1799–1803). Im Artikel zu Aristoteles (160–162) werden dagegen viele Missverständnisse Kants benannt und in dem zu Spinoza (2152–2154) wird herausgearbeitet, dass sich die Transzendentalphilosophie Kants in weiten Teilen als Gegenentwurf zum Denken Spinozas verstehen lässt. Eine wichtige Rolle spielt Hume (1051–1054) für Kant, da ihn dessen Lektüre aus seinem »dogmatischen Schlummer« geweckt habe, wie Kant selbst im Vorwort zu den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (AA IV, 260) schreibt. Zudem hat ihn die Skepsis Humes bezüglich der Gültigkeit des Kausalbegriffes vor das Problem der Möglichkeit synthetischer Sätze a priori gestellt. Schließlich folgt noch ein Hinweis auf Rousseau (1989–1992), dessen enorme Bedeutung für Kants Moral-, aber auch Religionsphilosophie deutlich wird, wobei sich die Differenzen beider Denker aus ihrer jeweiligen Betonung des Gefühls (Rousseau) bzw. der Vernunft (Kant) verstehen lassen.
Die Artikel zu Kants Schriften beginnen mit ausführlichen bibliographischen Angaben, bis hin zu aktuellen zuverlässigen Editionen der Texte. Der Titel der jeweiligen Schrift wird erörtert, dann wird die Vorgeschichte ihrer Entstehung, aber auch ihr Inhalt genau referiert und ihre Bedeutung im Werk Kants ebenso erhoben wie wichtige Stationen ihrer Rezeption und die gegenwärtige Interpretationslage. Eine Liste weiterführender wichtigster Literatur schließt den jeweiligen Artikel ab. Diese Artikel über Kants Schriften geben gut geschriebene und sehr verständliche Einführungen in die oft hochkomplizierten Werke. Die Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (415–423) hat von Kants Publikationen das meiste zeitgenössische öffentliche Interesse auf sich gezogen. Entsprechend wird in dem Artikel an das Religionsedikt von Woellner erinnert, dem Kant mit der Einholung von Unbedenklichkeitserklärungen seitens der Theologischen Fa­kultät in Königsberg und der Philosophischen Fakultät in Jena begegnet, um die Publikation 1793 zu ermöglichen.
Die vier Stücke der Religionsschrift sind als Antagonismus von bösem und gutem Prinzip komponiert, wobei es zuerst um das radikal Böse im Menschen geht, zweitens um den Kampf beider Prinzipien, drittens um den Sieg des guten Prinzips und viertens um die kritische Sicht des kirchlichen Christentums. In theologischer Hinsicht bezieht sich das erste Stück auf die Hamartiologie, das zweite auf die Soteriologie und die beiden letzten auf die Ekklesiologie. Philosophisch betont Kant die Eigenständigkeit der Ethik gegenüber der Religion und gegenüber dem Kirchenglauben die Überlegenheit des Vernunftglaubens. Bei Kants vieldiskutiertem Beitrag zur Bestimmung des Wesens der Religion bleibt dessen Einordnung in den Zusammenhang der kritischen Philosophie umstritten.
Der letzte Typus von Artikeln informiert über die wichtigsten Daten der Periodika, in denen Kant publiziert hat. So erfährt man nicht nur etwas über die bis heute bekannte Berlinische Monatsschrift (257) oder die Göttingische Gelehrte Anzeigen (915 f.), son-dern etwa auch über die Allgemeine Literatur-Zeitung (40 f.), die Königsbergsche Gelehrte und Politische Zeitungen (1263 f.) oder die Wöchentliche Königsbergische Frag- und Anzeigungsnachrichten (2678).
Insgesamt ist das neue Kant-Lexikon in wissenschaftlicher, editorischer und verlegerischer Hinsicht eine Höchstleistung: 221 Autoren und Autorinnen haben 2395 Artikel verfasst. Dabei wurden die Herausgeber von einem sechsköpfigen Beirat führender Kantforscher und von vielen weiteren Hilfskräften und Übersetzern unterstützt. Dieses faszinierende Werk wurde maßgeblich von der Fritz Thyssen-Stiftung und den Universitäten Frankfurt am Main, Halle-Wittenberg und Bremen gefördert. Abgesehen von unwesentlichen Flüchtigkeitsfehlern sind mir keine sachlichen Mängel oder unzureichende Übersetzungen aufgefallen. Dieses Lexikon vermittelt eine großartige Gesamtschau der gegenwärtigen Kant-Forschung und zeigt zugleich, dass ein gedrucktes Lexikon im Zeitalter des Digitalen immer noch seine hohe Bedeutung hat. In diesem Sinn wäre es wünschenswert, wenn sich der Verlag nach gegebener Zeit entschließen könnte, eine Studienausgabe herauszubringen.