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Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

830–832

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Seelmann, Kurt, u. Benno Zabel[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Autonomie und Normativität. Zu Hegels Rechtsphilosophie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XII, 449 S. Kart. EUR 74,00. ISBN 978-3-16-152812-5.

Rezensent:

Andreas Arndt

Autonomie und Normativität werden im Horizont u. a. der Debatten um Individualismus und Kommunitarismus als »Schlüsselbegriffe der Gegenwart« (V) verstanden. Hier kommt Hegels Rechtsphilosophie nach Auffassung der Herausgeber unmittelbare Aktualität zu, weil sie beides in der Weise vereinigt, dass Person und normative Ordnung sich in ein und demselben Prozess des »Kampfes um Anerkennung« konstituieren (VI). Dieser Kampf allerdings hat in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts keine systematische Bedeutung, da er, wie in der Erläuterung zu § 57 ausdrücklich erinnert wird, einer vorstaatlichen, vorpolitischen Sphäre an­gehört.
Die insgesamt 27 Beiträge, die auf eine 2012 in Leipzig durchgeführte Tagung zum Thema »Normativität und Institution« zu­rückgehen, gliedern sich in sieben Themenabschnitte: Person, Anerkennung, Recht, Geschichte, Natur, Ethik und Metaphysik. Die Beiträge, die ein außerordentlich breites Themenspektrum abdecken und hier nicht alle gleichermaßen gewürdigt werden können, beziehen sich zum Teil aufeinander in der Form des Kommentars.
Jean-François Kervegan (»Person, Subjekt, Institution«) versucht, die »Tiefenstrukturen« der Grundlinien in der komplexen Vermittlungsstruktur des objektiven Geistes im Blick auf den Geist überhaupt freizulegen und durch alle Bereiche – abstraktes Recht, Moralität und Sittlichkeit – zu verfolgen. Dieser Ansatz erweist sich als fruchtbar besonders hinsichtlich der Bestimmung des abstrakten Rechts als »allgemeine Form« des Verhältnisses der Menschen zur Natur und zueinander (8) und der Sittlichkeit als »Institutionennetz« (12), womit auch gesagt ist, dass der Wille des Einzelnen in diesem Netz nicht aufgeht, sondern dieses Netz »eine bewusste soziale Individualität« erst ermöglicht (17). Giacomo Rinaldo (»Hegel und das philosophische Verständnis der Person«) legt eine Geschichte des Personenbegriffs vor, die auch Hegels Rezeptionsgeschichte einbezieht und hier besonders auf Gentile aufmerksam macht. Heikki Ikähemino (»Fichte on Recognizing Potential Persons«) und Carla De Pascale in ihrem »Kommentar« hierzu behandeln Fichtes Personenbegriff im Blick auf seine Theorie der Anerkennung und betonen dabei, dass Anerkennungstheorie und Rechtstheorie bei Fichte unlösbar miteinander verschränkt sind. Den Abschluss der ersten Themengruppe bildet Stephan Stübingers überaus anregender, materialreicher Aufsatz (»Hegel und das moderne Verständnis der Person im Recht«), der Hegels Personenbegriff vor dem Hintergrund der Rechtstradition der europäischen Moderne verortet und besonders den Übergang vom Natur- zum Vernunftrecht herausarbeitet.
Der dem Thema »Anerkennung« gewidmete zweite Abschnitt stellt eigentlich den Begriff der Menschenwürde in den Mittelpunkt (Sabrina Zucca-Soest, »Das Recht der Menschenwürde«; Christoph Enders, »Kommentar zu ›Das Recht der Menschenwürde‹«; Gerhard Luf, »Institutionelle Dimensionen der Menschenwürde bei Hegel«). Zucca-Soest stellt auf das Verhältnis von Moralität und Legalität ab, wobei Rechtsverhältnisse und Menschenwürde sich bei Hegel als »Kondensat« (115) eines intersubjektiven Anerkennungsprozesses ergeben sollen. Dies betreffe vor allem den Jenaer Hegel, während Hegel später Würde als »unendliche[n] Stellenwert des absoluten Subjekts« gedacht habe (117). Diese Deutung ignoriert, dass Hegel gerade in den Grundlinien das Recht der Besonderheit des Subjekts, d. h. der subjektiven Freiheit in den Mittelpunkt gestellt hatte. Nicht nachvollziehbar ist auch, dass Hegels Begriff des Rechts als Aufhebung von Moralität gedeutet wird (ebd.). Moralität entsteht für Hegel erst auf der Grundlage des modernen Rechts als Dasein der Freiheit, während Zucca-Soest – unter weitgehender Berufung auf Habermas – dem Kampf um Anerkennung eine moralische und rechtskonstituierende Dimension zuschreibt.
Dem gegenüber spricht Benno Zabel (»Das Recht der Institutionen«) zu Beginn des dem Begriff des Rechts gewidmeten Abschnitts von einem »institutional turn« (155) bei Hegel, in dessen Licht er auch Honneths »emphatischen« Begriff von Anerkennung kritisiert (170). Hegels Bestimmung des Rechts als »Dasein des freien Willens« im § 29 der Grundlinien steht im Mittelpunkt des anschließenden Beitrags von Sebastian Rödl, während Klaus Vieweg (»Die bürgerliche Gesellschaft als ›Verstandesgemeinschaft‹«) die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft im Blick auf Hegels Logik zu entschlüsseln versucht. Die Rechtspflege behandelt Wolfgang Schild (»Geschworenengericht und Strafrechtinstitution«), der hierzu auch Hegels Theorie der Moralität in den Grundlinien, die rechtsphilosophischen Vorlesungen Hegels und seine Enzyklopädie heranzieht. Die damit verbundene grundlegende Frage nach der Legitimation und dem Sinn staatlicher Strafgerichtsbarkeit wird in dem »Kommentar« von Diethelm Klesczewski in den Mittelpunkt gestellt. Die Geschworenengerichte, so seine These, hätten für Hegel gerade deshalb eine besondere Bedeutung, weil der Täter hier von »Seinesgleichen beurteilt« werde (231) und daher die Strafe als selbstverschuldet einsehen könne. In einem weiteren »Kommentar« verweist Katrin Gierhake auf den »Vernunftgrund« (239) der Strafe bei Hegel. Eine aktuelle Anverwandlung Hegels unternimmt schließlich Stephan Kirste (»Hegel und der postnationale Verfassungsstaat«), der im Blick auf die EU dafür plädiert, diese weitgehend der bürgerlichen Gesellschaft zuzuordnen (251), was dazu zwinge, auch Staatlichkeit neu zu denken. Die weitergehende Frage, wieweit das Recht die globalisierte und supranational organisierte bürgerliche Gesellschaft noch in die Schranken verweisen kann, wie Hegel es dachte, wäre hier anzuschließen.
Der folgende Abschnitt ist dem Begriff der Geschichte gewidmet, der auch am Schluss der Hegel’schen Grundlinien behandelt wird. Christian Schmidt (»Das Recht der Geschichte«) betont den Aspekt der Freiheitsgeschichte, wobei jedoch die Verwirklichung der Freiheit in einer »Utopie der Versöhnung« zweifelhaft bleibe (276 f.). Zu fragen wäre, ob Versöhnung überhaupt im objektiven Geist erreicht werden könnte. Günter Dux (»Radikale Historisierung«) und Pirmin Stekeler-Weithofer (»Logik der Geschichte und Geschichte im Begriff«) diskutieren kontrovers die Beziehung der Geschichte auf eine ›Logik‹ und damit – Hegelsch – auf ein Absolutes. Erst hierin, so Stekeler-Weithofer gegen Dux, lasse sich Freiheit auch als Voraussetzung geschichtlichen Handelns begründen.
Unter dem Begriff »Natur« sind Beiträge von Kenneth R. Westphal (»Autonomie und Freiheit verkörperter Personen«), Daniela Demko (»Autonomie in den Life Sciences«) und Ludwig Siep (»Freiheit, soziale Identität und Natur in Hegels praktischer Philosophie«) vereint. Siep sieht Grenzen der Hegel’schen Freiheitstheorie darin, dass er in der sozialen Integration – politisch und religiös – den Staat zum Selbstzweck mache (358), im Naturverhältnis natürliche Unterschiede zu sittlichen überhöhe (358). Insgesamt plädiert er für den Verzicht auf systematisch-philosophische Begründungen zugunsten von »heuristische[n] Rekonstruktionen historischer Erfahrungen« (368), womit auch eine Gegenposition zu Stekeler-Weithofer formuliert ist.
Im Blick auf den Begriff der »Ethik« stehen die Probleme der Verzeihung (Klaus-M. Kodalle, Kurt Seelmann und der Kommentar von Elisabeth Weisser-Lohmann) und Versöhnung (Erzsébet Rózsa) im Mittelpunkt, wobei Rósza gegen Seelmann die Bedeutung der In­stitutionen auch für Verzeihung und Versöhnung hervorhebt (420).
Der letzte Abschnitt steht unter dem Titel »Metaphysik«. Er beginnt mit »Meditationen« (424) Walter Jaeschkes über Hegels Satz aus der Vorrede zu den Grundlinien, es komme darauf an, »das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen«. Dieses sei die Vernunft, die im Erkennen des Wirklichen sich selbst begreift. In diesem Begreifen geht es ihr nicht um veränderndes Eingreifen, sondern um das, was ist. Gleichwohl ist die vernünftige Wirklichkeit von der Zufälligkeit und bloßen Existenz zu unterscheiden, was der Selbsterkenntnis der Vernunft auch eine kritische Funktion geben könnte. Solche Spannungen aufzuspüren und die damit verbundenen Probleme auszuloten wäre, wie Birgit Sandkaulen in ihrem »Kommentar« feststellt, »Stoff für eine weitere Tagung oder mehrere sogar« (432). Indem sie Hegels Behauptung nachgeht, seine These von der Vernünftigkeit des Wirklichen komme mit dem »unbefangenen Gemüt« überein, möchte sie zeigen, dass Hegel der Konsequenz seiner fundamentalen Einsicht in die Geschichtlichkeit des Geistes ausweicht, indem er jede »kritische[] Verständigung über die öf­fentlichen Angelegenheiten« (435) ausblendet.
Der vorliegende Band vereinigt ein solches Spektrum von Themen und neuen, weiterführenden Interpretationen – ohne Vollständigkeit zu suggerieren –, dass er für weitere Arbeiten zu Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts eine unverzichtbare Anregung darstellt. Von einem Tagungsband lässt sich dies nur sehr selten behaupten.