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Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

810–812

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Rahner, Karl

Titel/Untertitel:

Sämtliche Werke. Hrsg. v. d. Karl-Rahner-Stiftung unter Leitung v. K. Kard. Lehmann, J. B. Metz, A. Raffelt, H. Vorgrimler u. A. R. Batlogg SJ (= SW). Bd. 1: Frühe spirituelle Texte und Studien. Grundlagen im Orden.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2014. CXXXV, 568 S. Geb. EUR 100,00. ISBN 978-3-451-23719-5; Bd. 5/1: De Gratia Christi. Schriften zur Gnadenlehre. Erster Teilband. Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2015. XXII, 602 S. Geb. EUR 90,00. ISBN 978-3-451-23705-8; Bd. 22/1a: Dogmatik nach dem Konzil. Erster Teilband: Grundlegung der Theologie, Gotteslehre und Christologie. Teil A. Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder. XXXV, 486 S. Geb. EUR 80,00. ISBN 978-3-451-23722-5.

Rezensent:

Gunther Wenz

In dem ältesten Manuskript, das von ihm erhalten ist (vgl. SW 1, 535), einem Schulaufsatz vom 28. Oktober 1919, berichtet Karl Rahner (1904–1984) von einem Tag im Exerzitienhaus der Jesuiten in Feldkirch und von der Ordnung, nach der sein Verlauf für Patres, Brüder und Novizen strukturiert war, beginnend mit dem Weckruf zum Morgenlob und endend mit Gewissenserforschung sowie einem Kurzbesuch der Kapelle am Abend. Der damals 15-Jährige zeigte sich beeindruckt von der Kraft, mit der die Jesuiten sich im Dienst jener heiligen Sache, wie er schreibt, betätigen, und es scheint fast so, als sei der Entschluss schon gefasst, es ihnen in Zukunft gleichzutun. Die Aussicht, als Ordensmann sein eigener Kammerdiener zu sein, stört ihn dabei offenbar nicht; er findet es im Gegenteil »ergötzlich, die hochgelehrten Patres mit Eimer und Besen beim Zimmerputzen zu sehen« (SW 1, 345).
Nachlesen kann man den zukunftsweisenden Gymnasiastentext im ersten Band der »Sämtliche(n) Werke« Karl Rahners, der eine Reihe von bisher unveröffentlichten Studien (SW 1, 217–342), kleine Aufsätze, Meditationen und Predigten (SW 1, 343–410) sowie Listen von Büchern enthält (SW 1, 413–436), die Rahner zu Junioratszwe-cken, also in demjenigem Ausbildungsabschnitt gelesen hat, der auf das Noviziat folgt. Unter den veröffentlichten Texten der Frühzeit (SW 1, 1–216) befinden sich Rahners Erstpublikation über die Notwendigkeit des Betens sowie Texte, die sein frühes und lebens lang bewahrtes Interesse an den Gehalten der Philosophie und der Spiritualität belegen. Zusätzliches Gewicht gewinnt der Band durch ein vorangestelltes biographisch-werkgeschichtliches Rahnerporträt von K. Kardinal Lehmann (XII–LXVII) sowie eine Einführung Lehmanns und A. Raffelts in die Edition und ihre Einzelbände (LXVIII–CXX) samt einem Spezialbericht zu SW 1 (CXXI–CXXXV).
Wie auf SW 1 so wurde in dem ausführlichen Literaturbericht zu Rahners Sämtlichen Werken in ThLZ 140 (2015), 1008–1029.1163–1183 auch auf den mittlerweile ebenfalls wieder greif- bzw. lieferbaren Teilband SW 22/1a bereits kurz Bezug genommen. Er enthält unter der Überschrift »Dogmatik nach dem Konzil« Texte zur Grundlegung der Theologie, welche Funktion und Begriff von (Religions-)Philosophie, Fundamentaltheologie und Dogmatik in ihrem Verhältnis zueinander sowie das Problem der Geschichtlichkeit des kirchlichen Dogmas, die Bedeutung der Dogmengeschichte, das Verhältnis von Wandelbarem und Unwandelbarem in der Kirche, methodologisch-hermeneutische Fragen und Fragen der Offenbarung, ihrer Überlieferung und ihrer prinzipiellen Offen- oder Abgeschlossenheit thematisieren. SW 22/1b bietet sodann Aufsätze und Studien zur Grundlegung von Gotteslehre und Christologie, auf die ebenfalls bereits eingegangen worden ist. Noch unberücksichtigt blieben hingegen bisher die Schriften zur Gnadenlehre »De gratia Christi« aus der ersten und zweiten Werkphase, die 2015 in SW 5/1 zum Schluss der Textbandreihe vorgelegt worden sind. Sie führen ins innerste Zentrum Rahner’scher Theologie, in ihr »Herzstück« (SW 5/1, XI), wie einleitend mit vollem Recht gesagt wird. Der Teilband bietet Aufsätze (SW 5/1, 1–205) und Rezensionen (SW 5/1, 207–236) sowie den Nachdruck der einleitenden Kapitel des hektographierten Codex einer Innsbrucker Vorlesung »De gratia Christi«, die Rahner erstmals im Wintersemester 1937/38 im Stil eines neoscholastischen Traktats auf Lateinisch gehalten hat. Die Fortsetzung des Kollegtexts samt deutscher, von Theodor Schneider durchgesehener Übersetzung wird SW 5/2 bieten.
In ihrem Editionsbericht bezeichnen es die Bandbearbeiter von SW 5, R. A. Siebenrock und A. Raffelt, als einen theologiegeschichtlichen Glücksfall, dass Rahner »zu Beginn seiner Lehrtätigkeit die schulmäßige Behandlung dieser Frage als zentralen Lehrgegenstand übernehmen mußte« (SW 5/1, XI). Je mehr er sich in die überlieferte Gnadenlehre der vor- und nachtridentinischen Scholastik vertiefte, desto mehr wuchs er über sie hinaus, um einen grenzüberschreitenden gnadentheologischen Horizont zu eröffnen. Dieser erweist seine Bedeutung sowohl in binnenkatholischer als auch in ökumenischer Hinsicht. Präzise und begriffsklar legt Rahner bei souveräner Kenntnis der Lehrtradition samt einschlägiger Sekundärliteratur dar, was unter geschaffener und ungeschaffener Gnade, unter Natur und Übernatur zu verstehen und wie das Verhältnis von Natur und Gnade, von lex naturalis und übernatürlicher Gnadenordnung, von Schöpfungswirklichkeit und Erlösungswirklichkeit zu bestimmen sei. Kontroverstheologische Fragen werden dabei nicht ausgespart. Besonders aufschlussreich in dieser Hinsicht ist beispielsweise Rahners Stellungnahme zu Hans Küngs Dissertation über Karl Barths Rechtfertigungslehre (vgl. H. Küng, Rechtfertigung. Die Lehre Karl Barths und eine katholische Besinnung, Einsiedeln 1957; zum Begleitbrief Barths vgl. a. a. O., 11 f.). Zwar werden verbleibende Vorbehalte nicht nur gegenüber der soteriologischen Konzeption Barths, sondern gegenüber der ge­samten reformatorischen Heils- und Gnadenlehre signalisiert; an der Richtigkeit des tridentinischen Lehrentscheids lässt Rahner nirgends einen Zweifel aufkommen. Aber je differenzierter und subtiler er die traditionelle Gnadenlehre und seine eigenen Theoreme, etwa dasjenige des sogenannten übernatürlichen Existentials entwickelt, desto deutlicher eröffnet sich die Möglichkeit eines differenzierten gnadentheologischen Konsenses, der wegen der kriteriologischen Funktion, welche der Gnadentheologie von Rahner zuerkannt wird, weitere Verständigungswege zu erschließen verspricht.
Karl Barth hatte in einem Begleitbrief zu Küngs publizierter Dissertation bekundet, dass er die katholische Lehre von der Rechtfertigung für den Fall anerkennen könne, dass die Küng’sche als katholisch gelten dürfe. Rahner meint ihr dies jedenfalls insoweit attestieren zu können, als sie nicht unkatholisch und »von keiner kirchenamtlichen Lehre verworfen« (SW 5/1, 136) sei: Mehr könne »man nicht verlangen« (ebd.). Gelte dieser Grundsatz schon im binnenkatholischen Bereich, so habe er im ökumenischen Raum außerhalb der römisch-katholischen Kirche umso größeren An­spruch auf Gültigkeit. Man müsse, so Rahner, die römisch-katholische Lehre nicht buchstäblich repetieren, um im römisch-katholischen Sinne rechtgläubig zu sein. Lediglich ein kontradiktorischer Widerspruch schließe ihrem Urteil gemäß Orthodoxie aus. So diskussionsbedürftig dieser häresiologische Grundsatz auch sein mag: Ein bemerkenswertes Zeugnis für die Weite des Herzstücks der Theologie Rahners und für die Offenheit seines eigenen Herzens ist er allemal.