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Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

787–788

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Berndt, Rainer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Wider das Vergessen und für das Seelenheil. Memoria und Totengedenken im Mittelalter.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2013. 382 S. u. 32 Tfn. m. Abb. = Erudiri Sapientia, 9. Geb. EUR 59,00. ISBN 978-3-402-10436-1.

Rezensent:

Heinrich Holze

Der anzuzeigende Band präsentiert die Vorträge einer von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten internationalen und interdisziplinären Tagung des Hugo von Sankt Viktor-Institutes der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main vom März 2008. Anknüpfend an die Feststellung Jan Assmanns, dass die Erinnerung an die Toten eine der ursprünglichsten und verbreitetsten Formen von Erinnerungskultur ist, gehen die Autoren der Frage nach, welche Veränderungen die Pflege des To­tengedächtnisses im Laufe des Mittelalters erfahren hat. Die Beiträge werden in drei thematischen Abschnitten zusammengefasst.
Der erste Abschnitt enthält Beiträge zur »Theologie und Kultur christlicher Memoria«. Rainer Berndt, Direktor des Hugo von Sankt Viktor-Institutes, entwickelt aus Texten der Alten Kirche und des Mittelalters eine Deutung der Eucharistie als Grundlage der christlichen Memorialpraxis zur Vergegenwärtigung der Geschichte des Heils in Christus. Stephan Wahle (Freiburg) vertieft diese Auffassung, wenn er in Aufnahme eines Gedankens von Johann Baptist Metz die eucharistische Anamnese der Heilsgeschichte in ihrer liturgisch-theologischen Dimension als memoria passionis be­schreibt, »in der die Solidarität des Gekreuzigten mit den unschuldigen Opfern und Toten der Geschichte und den unschuldig Leidenden der Gegenwart eingeschrieben ist«. Hideki Nakamura (To­kio) stellt anknüpfend an seine Bonner Dissertation (»Amor in­visibilium«) die Grundlinien der Memoria in der Kontemplationslehre Richards von Sankt Viktor dar und beschreibt die Folgen, die ein Verlust des Gedenkens aus theologisch-philosophischer Sicht hatte. Jürgen Bärsch (Eichstätt) geht der Entstehung des Al­lerseelentages nach, wobei er auf die Bedeutung Clunys als Zentrum mittelalterlichen Totengedenkens verweist und die Liturgie und Theologie von Allerseelen in Cluny erläutert. Hans-Winfried Jüngling (Sankt Georgen) analysiert drei Texte des Sirachbuches, die für die Auslegungsgeschichte der Memoria von Bedeutung geworden sind. Gert Melville (Dresden) interpretiert die Memoria als institutionelles Fundament der mittelalterlichen vita religiosa, weil sie einen Mangel der vita religiosa zu kompensieren vermochte, »die Unmöglichkeit nämlich, auf dem Weg zur Perfektion bereits perfekt zu sein«.
Der zweite Abschnitt enthält Beiträge zu den Ausformungen des Totengedenkens und den Medien seiner Kommunikation im Mittelalter. Jean Dufour (Paris) untersucht mit den Totenrollen, in denen Mönche und Kanoniker die Nachricht vom Tod eines Mitglieds oder Freundes des Hauses über ganz Europa verbreiteten, eine bislang kaum erforschte Quelle der klösterlichen Gedächtniskultur. In ihnen spiegelt sich das Bewusstsein der eschatologischen Dimension des Lebens, in dem die Toten durch die Totenbücher liturgisch präsent blieben. Monika Seifert (Frankfurt am Main) lenkt in ihrem Beitrag über das Lorscher Necrolog-Anniversar den Blick auf christliche Martyrologien und Kalendarien mit Gedächtniseinträgen. Nikolas Jaspert (Heidelberg) untersucht die Memo-rialtraditionen der Chorherren vom Heiligen Grab in Jerusalem, die durch Liturgien, Reliquien und andere Mittel die Erinnerung an Jerusalem in das Bewusstsein der lateinischen Christenheit zu rücken suchten. Andrzej Radzimin´ski (Thorn) erörtert Nekrologe und Anniversarien in polnischen Domkapiteln unter dem Ge­sichtspunkt des Totengedächtnisses und ihre Rolle in den Desintegrationsprozessen des späten Mittelalters. Klaus Militzer (Köln) schließlich beschäftigt sich mit den Formen des Gedenkens in Kölner Bruderschaften im ausgehenden Mittelalter.
Der dritte Abschnitt enthält Beiträge zur »identitätsstiftende(n) Kraft von Memoria«. Arnold Angenendt (Münster) bietet eine von der frühchristlichen Antike bis zur Reformation des 16. Jh.s reichende kenntnisreiche Darstellung der sich verändernden Gestalten der liturgischen Toten-Memoria, die als »Hilfe für das Fortleben im Jenseits« verstanden wurde, mit ihren sozialen Aspekten auch eine starke gesellschaftliche Funktion hatte und erst in den Kirchen der Reformation an Bedeutung verlor. Rolf Große (Paris) geht in seinem Beitrag der in die Merowingerzeit zurückreichenden Tradition der Grablegung der französischen Herrscher in Saint-Denis für die Identitätsbildung des Königreichs Frankreich nach und untersucht die Strukturen der sich in Anniversaren und Nekrologen zeigenden Memoria. Johanna Gummlich-Wagner (Bonn) zeigt an Memorialbildern und Signaturen in Handschriften des Kölner Klarissenklosters St. Klara, auf welche Weise versucht wurde, die Jenseitsvorsorge zu sichern. Sebastian Scholz (Zürich) schließlich analysiert Funktion und Bedeutung der Grabmäler von Laien in den Kirchen, beschreibt die vergeblichen Versuche der spätmittelalterlichen Kanonistik zur Eindämmung und arbeitet heraus, was das kirchliche Grabmal für den Einzelnen hinsichtlich der Gedächtnisstiftung, Selbstdarstellung, Rechtssicherung und Legitimation bedeutete.
Insgesamt eröffnen die Beiträge des Tagungsbandes erhellende und weiterführende Zugänge zum Verständnis der mittelalter-lichen Memorialkultur. Unter Einbeziehung kulturanthropolo-gischer Forschungsansätze wird das Totengedenken aus theologischer, liturgiewissenschaftlicher und historischer Perspektive be­schrieben. Eine Vielzahl von Ausdrucksformen und Funktionen der mittelalterlichen Memorialpraxis wird erkennbar. Zugleich wird deutlich, dass die Memoria als ein spezifischer Ausdruck des christlichen Welt- und Geschichtsverständnisses gesehen werden. Der Band wird abgerundet mit zahlreichen bildlichen Darstellungen sowie einer Bibliographie, welche die in den Beiträgen angeführten Quellen enthält. Drei Register erschließen die in den Aufsätzen angeführten Bibelstellen sowie die Personen und ihre Werke.