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Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

772–773

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Divjanovi, Kristin

Titel/Untertitel:

Paulus als Philosoph. Das Ethos des Apos­tels vor dem Hintergrund antiker Popularphilosophie.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2015. VIII, 434 S. = Neutestamentliche Ab­handlungen. Neue Folge, 58. Lw. EUR 58,00. ISBN 978-3-402-11441-4.

Rezensent:

Friedrich W. Horn

Diese im Jahr 2015 am Fachbereich Katholische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main unter der Betreuung von Thomas Schmeller abgeschlossene Dissertation von Kristin Divjanovi untersucht nicht die Lehrinhalte, die Ähnlichkeiten oder Gemeinsamkeiten zwischen den Briefen des Paulus und der zeitgenössischen Philosophie darstellen. Vielmehr fragt D. nach dem Ethos der Philosophen und des Apostels. Unter Ethos versteht D. das für eine Gruppe oder Gesellschaft typische Verhalten und Handeln sowie die zugrunde liegenden Werte (4). Dies führt zu folgenden Forschungsfragen: ob der Apostel von seinen Adressaten als ein Philosoph wahrgenommen wurde, ob sich sein Selbstverständnis, seine Werte, Gesinnungen und Lebensweisen dahingehend aussprechen, ob es Konturen zu einer bestimmten Schule gibt, ob die Affinitäten durchgehend gegeben oder auf spezifische Felder eingeengt werden, ob mögliche Gemeinsamkeiten auch begrenzt sind (4 f.). Die Thematik ist bereits mehrfach monographisch bearbeitet worden. D. nennt in erster Linie die Arbeiten von Adolf Bonhöffer, Max Pohlenz, Hans Dieter Betz und Troels Engberg-Pedersen.
D. stellt der Arbeit die These voran: Paulus »wurde teilweise als Philosoph wahrgenommen und hat nicht zufällig Assoziationen zu philosophischen Verhältnissen hervorgerufen« (19). »Ziel dieser Untersuchung ist es, anhand eruierter Parallelen und unter Einbeziehung der im Hintergrund stehenden Einflüsse beurteilen zu können, wann, warum und inwiefern der Apostel von seinen Rezipienten mit einem Philosophen identifiziert worden sein könnte und welche Außenwirkung er hatte.« (20) Die Arbeit strebt einen stärker kulturwissenschaftlichen als religiösen Zugang zu den Paulusbriefen und zur Persönlichkeit des Paulus an (20).
Im Hauptteil der Dissertation stehen vier Themenbereiche, an denen Vergleiche durchgeführt werden: a) Konversionen von Philosophen und die Konversion des Paulus, b) die Selbstpräsentation der Philosophen und die Selbstpräsentation des Paulus, c) die Paränese der Philosophen und die Paränese des Paulus, d) die Beurteilung der Widrigkeiten (Peristasen) in der Philosophie und bei Paulus. Der dritte Teil ist vom Umfang her fast so groß (158–311) wie die drei anderen Teile zusammen. Daneben bietet die Studie eine knappe Einleitung, in der vor allem die Forschungsgeschichte umrissen wird (6–15; die Seitenzählung des Inhaltsverzeichnisses stimmt hier nicht). In einem ebenso knappen Fazit bündelt D. die Ergebnisse der Studie. Außerdem schließt jeder der vier Abschnitte des Hauptteils mit einem Resümee, so dass die Leserschaft schnell eine präzise Orientierung in der Studie finden kann.
Die Ergebnisse der Untersuchung der genannten vier Themenbereiche lauten: a) Die philosophischen Konversionserzählungen unterscheiden sich in Funktion und Kontext von den neutestamentlichen Bekehrungs-/Berufungserzählungen des Paulus und der Apostelgeschichte. Die Texte sind jedoch durch so viele Motive und Topoi verbunden, dass von einer bewussten Adaption des Paulus an diese griechisch-römische Erfahrungswelt auszugehen ist (122). b) Das äußere Erscheinungsbild des Paulus ähnelte dem der kynischen Philosophen. Sein Auftreten in Privathäusern und nicht innerhalb der Öffentlichkeit der Polis deutet allerdings eher eine Nähe zum Erscheinungsbild des philosophischen Lehrers an. Die Topoi der παρρησία, der Bescheidenheit, des Geldverzichts u. a. gehören in das Umfeld von Konkurrenz und Wettbewerb unter Philosophen, sodass auch hier hinsichtlich des Erscheinungsbildes eine den Philosophen ähnliche Außenwirkung zu konstatieren ist (156 f.). c) Auch in der Paränese orientiert sich Paulus sprachlich am griechisch-römischen Umfeld. Es sei sogar anzunehmen, dass die christlichen Gemeinden aus der Außenperspektive als konkurrierende philosophische Schulen wahrgenommen wurden. Neben den Gemeinsamkeiten und Analogien verweist D. auf eine grundlegende Differenz: »Diese Selbstrelativierung bzw. -reduktion des Paulus, die aus der untrennbaren Verbindung mit Gott resultiert, ist meines Erachtens der zentrale Unterschied, der sich bei allen Gemeinsamkeiten mit der Paränese antiker Philosophen niemals übersehen lässt …« (309). Überdies verabschiedet sich Paulus also von dem, »was bisher im nichtchristlichen Bereich Weisheit hieß und Bildungsziel war, zum anderen bereitet er den Weg für die in der Folgezeit sehr einflussreiche Vorstellung von der christlichen als der wahren Weisheit, die die Philosophie nicht ablöst, sondern in sich aufnimmt« (Zitat Thomas Schmeller) (310 f.). d) Bei den Peristasenkatalogen, für die ebenfalls zahlreiche Ge­meinsamkeiten in Bezug auf Inhalt und Form festgestellt werden können, liegt die grundlegende Differenz im anthropologischen Konzept. Während der stoische Weise Anteil an der göttlichen Weltvernunft hat, versteht sich Paulus als ganz auf die Gnade angewiesen. Der Begriff der Gnade ist der philosophischen Tradition fremd. Daher kann Paulus seine Schwachheit ansprechen, die an sich nicht defizitär, sondern als Ort der Gnade Gottes angesehen wird (389).
Das Gesamtergebnis der Studie kommt zu dem Schluss, »dass Paulus durchaus in diversen Situationen eine den Philosophen ähnliche Außenwirkung gehabt haben muss«, oder aus der Perspektive des Apostels, »dass Paulus sich wohl zumindest teilweise zur philosophischen Seite hinzugerechnet hat« (400), ohne dass eine besondere Nähe zu einer bestimmten philosophischen Schule oder Richtung ausgemacht werden könnte (402).
Die Fragestellung der Dissertation, sich nicht auf Lehrinhalte, sondern auf das Ethos des Apostels in vier ausgewählten Bereichen zu beziehen, überzeugt, auch wenn eine gemeinsame Schnittmenge von Lehrinhalt und Ethos stets besteht und auch von D. nie ausgeschlossen wird. Auch wer in Detailfragen dieser umfangreichen Arbeit anders argumentieren mag und Akzente anders setzen würde, wird an dem überzeugenden Gesamtergebnis der Studie nicht vorbeigehen können. Sie ruft einen wesentlichen Aspekt in Erinnerung, wenn nach dem Profil des Apostels gefragt wird. Er war eben nicht nur Apostel, Lehrer, Heidenmissionar, Schriftausleger, Diasporajude, römischer Bürger, Verfasser von Briefen, ehelos, Mitglied von Synagogen und Hausgemeinden usw., diese Reihe wäre jetzt leicht zu erweitern, sondern eben auch hinsichtlich seines in der Außenwirkung wahrgenommenen und von ihm selbst inszenierten Erscheinungsbildes ein Philosoph. Gleichzeitig aber ist festzuhalten, dass Paulus sich nicht mit philosophischen Lehrinhalten bestimmter Ausrichtungen beschäftigt (403). Die Ähnlichkeit bezieht sich ausschließlich auf den äußeren Eindruck. Das ist das klare und beachtliche Ergebnis der Studie.