Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

763–765

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Ooi, Vincent K. H.

Titel/Untertitel:

Scripture and Its Readers. Readings of Israel’s Story in Nehemiah 9, Ezekiel 20, and Acts 7.

Verlag:

Winona Lake: Eisenbrauns 2015. XI, 242 S. = Journal of Theological Interpretation. Supplements, 10. Kart. US$ 36,95. ISBN 978-1-57506-352-2.

Rezensent:

Anja Klein

Die Studie ist die überarbeitete Fassung der 2011 bei Walter Moberly an der University of Durham angefertigten Dissertation. Vincent K. H. Ooi beschäftigt sich mit den drei Geschichtsrückblicken Neh 9, Ez 20 und Apg 7, die aus kanonischer Perspektive untersucht und unter der Fragestellung verglichen werden, welche Bedeutung ihnen für die (christlichen) Leser zukommt: »The purpose is to consider how these retellings read scriptural traditions in relation to the wider context of the Christian canon; and to reflect on their enduring and formative significance as Scripture for readers seek­ing to appropriate Scripture faithfully today.« (2) Die Einleitung (1.) begründet das methodische Vorgehen und führt in die Methode der kanonischen Schriftauslegung ein, die in der englischsprachigen Forschung unter dem Begriff »Theological Interpretation of Scripture« Verbreitung gefunden hat. O. zitiert hier Walter Moberly, der den Ansatz folgendermaßen definiert: »theological interpretation is reading the Bible with a concern for the enduring truth of its witness to the nature of God and humanity« (10). Als Gegenposition verweist O. auf John Barton, der sich für ein zweistufiges hermeneutisches Vorgehen ausspricht, bei dem zwischen der Textaussage (»the meaning of a text«) und der Wahrheit des Textes (»the truth of that text«) zu unterscheiden sei (12). O. verteidigt den gewählten Ansatz und zitiert erneut Walter Moberly, der gegen Barton ein dialektisches Vorgehen fordert: »There is thus a sense in which the articulation of what a text might ›mean‹ today, is necessary condition of hearing what the text ›originally meant‹« (15).
Im zweiten Kapitel sichtet O. die Forschung und stellt ausgewählte Vertreter der kanonischen Schriftauslegung vor. Nachdem auf diese Weise der methodische Rahmen abgesteckt ist, folgen in den nächsten drei Kapiteln die Textanalysen. So interpretiert O. zuerst Neh 9 (3.) mit Bezug auf den Lobgesang des Zacharias Lk 1,67–79 als Hoffnung auf die Erfahrung von Gottes Bundestreue, die sich im Christusereignis erfülle. Die Normfunktion der Tora werde dabei durch die Nachfolge Jesu Christi neu kontextualisiert, während die Gattung als Gebetstext Neh 9 als Symbol (»icon«) verständlich mache, das den Text einer christlichen Interpretation öffne (94).
Die Auslegung des Geschichtsrückblickes in Ez 20,5–31 (4.) konzentriert sich auf den Alleinverehrungsanspruch Jhwhs, den Israel mit dem wiederkehrenden Götzendienst und der Entweihung des Sabbats verletze. In dem Exklusivitätsanspruch JHWHs, der unter Bezug auf 1Kor 8 mit dem Bekenntnis zum auferstandenen Chris­tus neu formuliert werden müsse (135), und der zur Wachsamkeit gegenüber Verlockungen jeglicher Form des Götzendienstes auf-rufe (136), sieht O. die Bedeutung von Ez 20 für den christlichen Schriftleser.
Im fünften Kapitel widmet sich O. mit dem Geschichtsrückblick des Stephanus in Apg 7 einem neutestamentlichen Text. Er arbeitet heraus, dass die Verheißungen an Abraham und Mose aktualisiert und auf den Gottesdienst im Land übertragen werden. Das Martyrium des Stephanus, das den Rückblick beschließt, werde als Nachfolge Christi dargestellt, so dass die Geschichte Israels im Zeugnis für den auferstandenen Christus ihr Ziel finde (182). Die Passion des Stephanus diene als performativer Akt: »As Stephen turned to the one ›who lives and reigns‹ with God, this performance of Stephen’s story invites scriptural readers to attend also to the mystery« (186).
In der abschließenden Zusammenfassung (6.) wird zuerst die Darstellung der Geschichte Israels in den drei Geschichtsrückbli-cken miteinander verglichen, bevor O. in sechs Thesen die Implikationen für den Schriftleser erörtert. Dabei zeigt er auf, dass die Texte in unterschiedlicher Form Identifikationspotential aufweisen. In Neh 9 sei es die spezielle Gattung als Gebetstext (191), während der Rückblick in Ez 20 auf die Selbstoffenbarung Gottes ziele (193). In Apg 7 werde dagegen das Martyrium des Stephanus zu einem performativen Akt, mit dem der Leser sich identifizieren könne (195). Es zeige sich, dass die Gründungsgeschichten Israels zwar jeweils unterschiedlich rezipiert werden, dass sie aber alle den »Geist« der Schrift erfassten (198). Dabei würden die Rückblicke jeweils von einem speziellen theologischen Auslegungsinteresse (»central vision«) geleitet, das in allen drei Texten eng mit dem kontextuellen Anliegen (»contextual interest«) verbunden sei, treu und gläubig vor Gott zu leben (199). In dieser Perspektive müsse die gesamte Schrift christologisch gedeutet werden, da die christliche Nachfolge auf Leben, Tod und Auferstehung Christi gerichtet sei (199). Schließlich betont O., dass alle diese Texte durch das Zusammenspiel von göttlicher Initiative und menschlicher Verantwortung geprägt seien, was beweist, dass eine Aneignung der Schrift nur mit göttlicher Leitung gelinge (200).
Die Arbeit zeigt die zunehmende Bedeutung der Methode der »theological interpretation«. Dabei gelingen O. im Vergleich der zwei alttestamentlichen Texte in Neh 9; Ez 20 mit dem neutestamentlichen Text Apg 7 eine Reihe wertvoller Textbeobachtungen, die die weitere Forschung bereichern werden. Dennoch bleibt die Anfrage, ob die Methode der »theological interpretation« den Texten gerecht werden kann, wenn diese aus unterschiedlichen Testamenten stammen. Wir haben es in Apg 7 mit einem Text zu tun, dessen historische Aussageabsicht von vornherein im Horizont der christlichen Botschaft steht, während bei den zwei alttestamentlichen Texten zwischen ihrer historischen Aussageabsicht und der christlichen Aneignung zu differenzieren ist. Der Versuch, Neh 9 und Ez 20 in christlicher Perspektive zu lesen, führt dabei nach Meinung der Rezensentin in einigen Punkten zu einer generalisierenden Interpretation, die die spezifischen Eigenheiten der Texte vernachlässigt. So wird der Geschichtsrückblick in Neh 9 durch die narrative Einleitung in Neh 9,2 als Sündenbekenntnis Israels kontextualisiert – eine Gattungszuschreibung, die als Interpretationskategorie bei O. weitgehend ausgeblendet ist. In Bezug auf Ez 20 stellt sich dagegen die Frage, warum die Analyse auf 20,1–31 be­schränkt wird. Zwar führt O. nicht zu Unrecht an, dass in 20,32–44 keine Rezeption der biblischen Geschichte mehr vorliege (99), aber es handelt sich doch um eine Gottesrede, die die Konsequenzen aus den in Ez 20 erzählten Begebenheiten berichtet. So zeigt der heilsprophetische Ausblick in 20,41–44, dass die Rückkehr in das Land ein wichtiges Anliegen des Textes ist (vgl. 20,9), da dort ein gottgefälliger Gottesdienst und die Abkehr vom Götzendienst ermöglicht werden.
Man hätte sich darüber hinaus eine methodische Reflexion darüber gewünscht, welche (neutestamentlichen) Texte jeweils zur Interpretation der drei Geschichtsrückblicke herangezogen werden. Das bleibt in vielen Fällen unbegründet und die generelle Präferenz neutestamentlicher Texte verdeckt den Blick auf alttestamentliche Texte, die zur Deutung hätten beitragen können. So stellt sich letztlich doch die Frage, ob die von Barton geforderte Differenzierung zwischen Textaussage und Wahrheit nicht besser geeignet wäre, um zu einer verantworteten kanonischen Auslegung zu gelangen, die dem unterschiedlichen historischen und hermeneutischen Kontext der Texte Rechnung trägt.