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Ausgabe:

Juli/August/2016

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Im Auftrag d. Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hrsg. v. D. Diner. Bd. 5

Titel/Untertitel:

Pr–Sy. Stuttgart: J. B. Metzler Verlag 2014. XVII, 627 S. m. Abb. u. Ktn. Geb. EUR 229,95. ISBN 978-3-476-02505-0. Bd. 6: Ta–Z. Stuttgart: J. B. Metzler Verlag 2015. XVII, 588 S. m. 60 Abb. u. 7 Ktn. Geb. EUR 229,95. ISBN 978-3-476-02506-7.

Rezensent:

Michael Tilly

Mit dem Erscheinen ihres fünften und sechsten Teilbandes liegt die Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK) nunmehr vollständig vor; noch ausstehend ist allein der Registerband, welcher die enzyklopädische Darstellung der Geschichte und Kultur des neuzeitlichen Judentums in allen seinen Lebensäußerungen abschließen wird. Einige der insgesamt 298 Lemmata behandeln wichtige Gesichtspunkte des neuzeitlichen Judentums (z. B. »Preußisches Judenedikt«, »Privileg«, »Professionen«, »Protokolle der Weisen von Zion«, »Rabbinerseminar«, »Reichsbund jüdischer Frontsoldaten«, »Ritualmord«, »Toleranzpatente«, »Ultraorthodoxie« [hier wäre eine Problematisierung des Begriffs notwendig gewesen], »Wissenschaft des Judentums«). Andere befassen sich mit epochenübergreifenden Themen (z. B. »Predigt«, »Prophetie« [als Thema der jüdischen Philosophie bzw. bei Sa’adja Gaon, Jehuda Halewi, Maimonides, Gersonides, Ḥasdai Crescas und Baruch Spinoza], »Purimspiel«, »Rabbinat«, »Religionsphilosophie«, »Responsen« [insbesondere zu Fragen der Ehescheidung und des Militärdienstes], »Schabbat«, »Schächten«, »Sefarad«, »Shekhina«, »Shema«, »Shtadlanut«, »Synagoge«, »Talmud«, »Tanach«, »Tish’a be-Av«, »Tod«, »Zakhor«, » Ẓedaka«, »Zeit«, »Zensur«, »Zion«). Die jüdische Beteiligung an verschiedenen geschichtlichen Ereignissen, Bewegungen und Institutionen sowie Künsten und Wissenschaften behandeln z. B. die Lemmata »Räterepublik«, »Résistance«, »Ro­man«, »Rote Armee«, »Russisch« (russischsprachige jüdische Literatur und Publizistik), »Semitistik«, »Sezessionskrieg«, »Sklavenhandel«, »Sonett«, »Soziologie«, »Transportwesen«, »Verlagswesen«, »Weltausstellung«, »Wissenschaft« und »Zeitungswesen«. Im Artikel »Übersetzung« geht es um jüdische deutsche Bibelübersetzungen; hier fehlt ein Hinweis auf die grundlegende Monographie des Mainzer Judaisten Hans-Joachim Bechtoldt (Stuttgart 2005). Zum Artikel »Verbindung« sei angemerkt, dass auch jüdische Korporationen entgegen der Darstellung unbedingte Satisfaktion nur auf Schläger, Säbel oder Pistole gewährten, nicht jedoch mittels »Boxen und Jiu-Jitsu« (255).
Ausführliche Begriffsbestimmungen enthalten z. B. die Einträge »Rasse« (Verwendung des Begriffs in unterschiedlichen Diskursen), »Schlemihl« (Gebrauch und Funktionen des Topos in der modernen jüdischen Literatur), »Theorie« (Reflexionen des Begriffs bei jüdischen Denkern) und »Verschwörung« (Vorkommen des Motivs in judenfeindlichen Kontexten). Der Artikel »Übervolk« thematisiert die jüdische Nietzscherezeption. Besondere Gedächtnisorte kommen z. B. in den Artikeln »Ravensbrück« (Frauenkonzentrationslager), »Recife« (erste Ansiedlung von Juden in Süd- und Nordamerika), »Treblinka« (Leben und Werk des Schriftstellers Jean François Steiner), »Vichy« (Judenfeindschaft im mit dem nationalsozialistischen Deutschland kollaborierenden État Français), »Weißensee« (jüdische Sepulkralkultur) und »Westminster« (Juden in England) zur Sprache.
Biographisch orientierte Artikel zu mehr oder minder bedeutenden Personen, die sich nur zu einem Teil anhand des gewählten Lemmas assoziativ erraten lassen, verbergen sich z. B. hinter den Einträgen »Prag« (Franz Kafka), »Psychoanalyse« (Sigmund Freud), »Realismus« (Hans J. Morgenthau) und »Reb Henokh« (Isaak Eu­chel). Der Artikel »Regietheater« stellt den Regisseur Leopold Jessner und den Schauspieler Fritz Kortner vor. Aufzulisten sind hier auch die verhüllenden Lemmata »reine Rechtslehre« (Hans Kelsen), »Reiterarmee« (Isaak Babel), »Relativitätstheorie« (Albert Einstein), »Renegaten« (Manès Sperber und Arthur Koestler), »Reportage« (Egon Erwin Kisch), »Rhapsody in Blue« (George Gershwin), »Riga« (Simon Dubnow), »Rote Kapelle« (Leopold Trepper), »Sachplakat« (Lucian Bernhard), »Salon« (Henriette Herz und Rahel Levin Varnhagen), »Salzsäule« (Albert Memmi), »Schachnovelle« (Stefan Zweig), »Schira« (Samuel Joseph Agnon), »Schöpfung« (Hans Jonas), »Sefer Ḥeshbon ha-Nefesh« (Mendel Lefin), »Selbstbildnis« (Felix Nussbaum), »Sexualwissenschaft« (Magnus Hirschfeld), »Shtern oyfn dakh« (Itzik Manger), »Sibirya« (Jakob Gordin), »Silbertablett« (Nathan Alterman), »Skamander« (Julian Tuwim), »Smyrna« (Sabbatai Zewi und der Sabbatianismus), »Solal« (Albert Cohen), »Sprachkritik« (Fritz Mauthner und Ludwig Wittgenstein), »Staatsräson« (David Ben-Gurion), »Stalingrad« (Wassili Grossman), »Tagebuch« (Anne Frank), »Tancred« (Benjamin Disraeli), »Tauwetter« (Ilja Ehrenburg), »Tell Halaf« (Max Freiherr von Oppenheim), »Tewje« (Schalom Rabinowisch), »al-Thaq āfah« (Paul Kraus), »Tikkun olam« (Emil Fackenheim), »Todesfuge« (Paul Celan), »Tohuwabohu« (Sammy Gronemann), »Totenbuch« (Soma Morgenstern), »Tractatus theologico-politicus« (Baruch de Spinoza), »Transit« (Anna Seghers), »Tur Malka« (Uri Zvi Grinberg), »Typus« (Georg Simmel), »Überseehandel« (David Ricardo), »Urteilskraft« (Hannah Arendt), »Utopie« (Ernst Bloch), »Verbesserung« (Christian Wilhelm von Dohm), »Vergleichende Musikwissenschaft« (Erich Moritz von Hornbostel), »Der verwaltete Mensch« (Hans G. Adler), »Völkerpsychologie« (Moritz Lazarus und Chajim H. Steinthal), »Völkerrecht« (Hersch Zvi Lauterpacht), »Volksfront« (Léon Blum), »Weltbühne« (Siegfried Jacobsohn und Kurt Tucholsky), »Weltende« (Jakob van Hoddis), »Weltgeschichte« (Simon Dubnow), »Welttheater« (Max Reinhardt), »West Side Story« (Leonard Bernstein), »Wirklichkeit der Hebräer« (Oskar Goldberg), »Wissenssoziologie« (Karl Mannheim), »Witebsk« (Marc Chagall), »Wolkenbügel« (El Lissitzky), »Worms« (Salomo Ji ẓḥaki [Raschi]), »Yankele« (Mordechai Gebirtig), »Yentl« (Isaac Bashevis Singer), »Zeno« (Italo Svevo), »Zikhroynes« (Glickl von Hameln), »Die Zimtläden« (Bruno Schulz) und »Zivilisationsprozess« (Norbert Elias).
Der Artikel »Restitution« behandelt die rechtsanthropologischen Folgerungen der Enteignung und Ermordung europäischer Juden durch die Nationalsozialisten, der Eintrag »Risorgimento« die Beteiligung von Juden am italienischen Einigungsprozess zwischen 1815 und 1870, und das Lemma »Sprachenstreit« die Durchsetzung der hebräischen Sprache unter jüdischen Einwanderern in Palästina. Thematisch orientiert sind die Einträge »Rassvet« (russischsprachige jüdische Wochenzeitungen), »Renaissance« (kulturelle und geistige Erneuerungsbestrebungen im deutschen Judentum am Anfang des 20. Jh.s), »Sanhédrin« (Geschichte des französischen Grand Sanhédrin), »S’brent« (Musik in Ghettos und Lagern unter nationalsozialistischer Herrschaft), »Shmattes« (jüdische Kleinhändler in Osteuropa), »Stellvertreter« (Papst Pius XII. und der Holocaust im Spiegel sowohl der historischen Quellen als auch ihrer literarisch-dramatisierenden Darstellung), »Sufis« (Verbindungslinien zwischen Sufismus und jüdischer Mystik), »Sultansjuden« (Geschichte der Familie Nasi), »Tafs īr« (Koranexegese), »Tarbut« (säkulare Bildung im osteuropäischen Judentum), »Tekhelet« (Flagge des Staates Israel), »Tempel« (Reformsynagogen), »Toledo« (Conversos), »Turiner Gruppe« (jüdische Antifaschisten), »Typographie« (hebräischer Buchdruck) sowie »Zahl« (Gematrie und Notarikon in der jüdischen Tradition).
Aspekte des alltäglichen Lebens und der populären Kultur sind Gegenstand z. B. der Einträge »Radio« (jiddischsprachiger Rundfunk in den U.S.A.), »Rock ’n’ Roll«, »Samson« (Lebensweg des Kraftsportlers Zishe Breitbart), »Schach«, »Schänke«, »Screwball« (Ernst Lubitsch und seine Filme), »Schoa« (Claude Lanzmann), »Second Avenue« (jiddisches Theater in New York), »Sektion Donauland« (jüdischer Alpinismus), »Shmontses« (humoristische einfache Formen), »Spielmacher« (George Tabori), »Sport«, »Superman« (Deutung der Comicfigur insbesondere im Kontext der Integration jüdischer Immigranten in die amerikanische Gesellschaft), »Undzere Kinder« (Karriere des Komikerduos Shimen Dzigan und Yisroel Shumacher), »Vaudeville«, »Volksmusik«, »Weintraubs Syncopators«, »White Christmas« (Irving Berg), »Zelig« (Woody Allen als Drehbuchautor, Regisseur und Schauspieler) und »Zwölftonmusik« (Arnold Schönberg).
Auch die durchweg lesenswerten Artikel in den beiden letzten Bänden des EJGK enthalten eine Fülle zuverlässiger Informationen und interessanter Einblicke in die faszinierende Vielfalt und Lebendigkeit jüdischer Kulturen insbesondere im neuzeitlichen Europa und in der Neuen Welt. Sie stellen dabei den immensen schöpferischen Beitrag des Judentums zu den bleibenden Errungenschaften der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte un­ter Beweis und machen insbesondere dem deutschen Leser in eindrücklicher Weise deutlich, dass es zu den grundlegenden Faktoren bei der Entstehung und Entwicklung der eigenen – von den Nationalsozialisten aufgegebenen – Zivilisation und »Leitkultur« gehört.