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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

695-696

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schemann, Hansjörg

Titel/Untertitel:

Stille und Gebet. Geistliche Begleitung als Seelsorge im kontemplativer Haltung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 548 S. Kart. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-03744-5.

Rezensent:

Michael Utsch

In den letzten zehn Jahren sind innerhalb der EKD etwa ein Dutzend neuer Ausbildungsmöglichkeiten in der wiederentdeckten Seelsorgeform »Geistliche Begleitung« entstanden. Sie werden von geistlichen Gemeinschaften oder Einkehrhäusern im Auftrag der Landeskirchen verantwortet oder fallen in die Zuständigkeit der Dezernate für Aus- und Fortbildung, Pastoralkollegs oder der je­weiligen Beauftragten für Spiritualität und geistliches Leben. Geistliche Begleitung versteht sich als eine spezifische Form nicht-problemorientierter Seelsorge. Mit ihrem Fokus auf der geistlichen Dimension unterscheidet sie sich von psychologischer Beratung, einer Supervision oder einem Coaching und ergänzt damit die große Vielfalt der evangelischen Seelsorgelandschaft. Hansjörg Schemann sieht in der Geistlichen Begleitung eine Form begleitender Einzelseelsorge, deren Fokus auf der Gottesbegegnung und -beziehung liegt. Der bayerische Pfarrer war am Aufbau der Arbeitsgemeinschaft Geistliche Begleitung in seiner Landeskirche beteiligt und wurde mit der hier vorgelegten Arbeit an der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau promoviert.
In einem ersten Hauptteil zeichnet S. die umstrittene Begrifflichkeit – »zwischen Seelenführung und Weggenossenschaft« (26ff.) – im Rückgriff auf ihre katholischen und evangelischen Traditionslinien nach. Weiterhin werden die wichtigsten Veröffentlichungen seit 1940 im europäischen und angelsächsischen Raum zum Thema vorgestellt. Es folgt die Verhältnisbestimmung von Geistlicher Begleitung und Seelsorge vor dem Hintergrund aktueller praktisch-theologischer Entwürfe. Der Hauptteil der Arbeit folgt einem dreigliedrigen Schema. Grundlage dafür ist die zuvor erläuterte trialogische Struktur der Geistlichen Begleitung. Diese Trias besteht nach S. aus den drei »Personen« des Begleitungsgeschehens: 1. Person: Die eigentliche Seelsorge führe Gott selbst (Berufung) in Jesus Christus (Inkarnation) durch die Kraft des Heiligen Geistes (Gottesbegegnung) durch. 2. Person: der begleitete Mensch, 3. Person: der geistliche Begleiter.
Ein weiterer Abschnitt untersucht die historischen Wurzeln dieser bereits im frühen Christentum bei den Eremiten angelegten Begleitungsform. Dabei untersucht S. alttestamentarische Verbindungen, z. B. bei Hiob und den Psalmen. Bei der neutestamentlichen Spurensuche werden Parallelen zwischen dem biblischen Zeugnis von Jesus als Seelsorger und der als behutsam und hörend beschriebenen Begleitungsform der Geistlichen Begleitung aufgezeigt. Exemplarisch wird das Ergebnis der Untersuchung an der Perikope von den Emmaus-Jüngern (Lk 24) verifiziert. Geistliche Begleitung setze beim Seelsorger eine kontemplative Grundhaltung voraus, der dabei keineswegs passiv sei: »Sie ist ein Akt höchster Präsenz, Aufmerksamkeit und Wachheit, die am besten als eine betend hörende Haltung beschrieben werden kann« (514).
In Abgrenzung zu Josuttis’ Entwurf einer mystagogischen Seelsorge will S. die individualpsychologische mit der spirituellen Perspektive verbinden. Im Rückblick auf die Seelsorgeentwicklung will S. deutlich machen, dass »die früheren Alternativen von Therapie oder Kerygma […] dem zentralen Anliegen der Seelsorge nicht mehr gerecht werden« (516). S. folgt in seinem Verständnis von Geistlicher Begleitung den Ansätzen von M. Plattig, K. Schaupp und R. Stolina, die diese als Seelsorge im Spannungsfeld von Profession, Spiritualität und Pastoralpsychologie konzipieren. Gegenüber einer häufig anzutreffenden evangelischen Skepsis, den Begriff Spiritualität zu verwenden, hält S. daran fest, dass es sich um einen genuin christlichen Begriff handle. Mit Michael Klessmann fordert er dazu auf, Spiritualität als einen Bestandteil von Beratungskompetenz einzubeziehen, weil sie zunehmend als eine Ressource in der Seelsorge- und Beratungsarbeit aufgegriffen werde. Ein weiteres Anliegen S.s ist die Verortung der Geistlichen Begleitung in der Ortsgemeinde und die Stärkung des Ehrenamts. Dabei verweist er auf gute Erfahrungen mit gemeindlichen Glaubenskursen und Exerzitien im Alltag. Nachdrücklich betont S. die Dimension gelebter Ökumene in der Geistlichen Begleitung und arbeitet Gemeinsamkeiten zwischen Luther und Ignatius heraus.
S. hat in seiner Arbeit die neue Seelsorgeform Geistliche Begleitung von ihren geschichtlichen Wurzeln über theologische Be­gründungen bis hin zu aktuellen Anwendungen auf der Gemeindeebene sorgfältig beschrieben. Damit liegt nun ein Überblick zu einem aktuellen Trend in der Seelsorge vor, der wieder stärker an der historischen Praxis der Seelsorge anknüpft und einen wohltuenden Gegenpol zu »modernen«, psychologisierenden Seelsorgeansätzen darstellt. Allerdings bleiben manche Ausführungen bei Andeutungen stehen, hier hätten praktische Beispiele das Gesagte auf der Meta-Ebene verdeutlichen können. Was ändert sich etwa in einem konkreten Seelsorge-Gespräch, wenn sich das kontemplative Element vor allem in der pneumatischen Dimension ausdrückt? Wie macht sich der Heilige Geist in der menschlichen Psyche bemerkbar? Auch in manchen pfingstkirchlich-charismatischen Seelsorge-Modellen wird als Schlüssel das »hörendes Gebet« empfohlen. Hier wären unterscheidende Kriterien hilfreich gewesen. Wie verändert die kontemplative Haltung die Beziehungsebene des Begleiters zu sich selbst und zum Gegenüber? Leider fehlen auch Bezüge zur Einbeziehung von meditativen Verfahren in Psychotherapie und Beratung, die seit einiger Zeit auch in Deutschland an Bedeutung gewinnen. Offen bleibt auch die Frage, aus welchem Anlass und mit welchen Zielen die landeskirchlichen Angebote der Geistlichen Begleitung in Anspruch genommen werden, wenn dort keine Konflikte oder Probleme gelöst werden.
Trotz dieser Einschränkungen liegt mit dieser Arbeit ein wichtiger Überblick zur kontemplativen Seelsorge aus evangelischer Perspektive vor. Es wäre ein wünschenswerter Effekt, wenn da­durch der Dialog zwischen einer pastoralpsychologisch und kontemplativ orientierten Seelsorge vertieft und von psychologischen und spirituellen Seelsorge-Positionen aus gemeinsam überlegt wird, wie Seelsorge lebensdienlich werden kann.