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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

669-672

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Keller, Andrea

Titel/Untertitel:

Cicero und der gerechte Krieg. Eine ethisch-staatsphilosophische Untersuchung.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2012. 249 S. = Theologie und Frieden, 43. Geb. EUR 39,90. ISBN 978-3-17-022340-0.

Rezensent:

Christoph Schubert

Die 2011 an der Hochschule für Philosophie (München) angenommene, bei Friedo Ricken S. J. entstandene Dissertation von Andrea Keller widmet sich Begriff und Konzept des bellum iustum im Werk Ciceros. Insofern das abendländische Nachdenken über die Gerechtigkeit von und in Kriegen hier, besonders in der Spätschrift De officiis, seinen zentralen, bis heute nachwirkenden Ausgangspunkt hat und Cicero als Angehöriger einer nach außen imperialistisch auftretenden, im Inneren zerrissenen Großmacht bei seinem Versuch, ethische Maßstäbe einzuziehen, einerseits mit asymmetrischen Kräfteverhältnissen, sprich der Problematik von »Beglückungskriegen«, andererseits mit der von Bürgerkriegen zu ringen hatte, besitzt sein Entwurf nicht nur historisches Interesse.
Trotz der unumstrittenen Relevanz für die Debatte um den gerechten Krieg, hat sich in neuerer Zeit in monographischer Form nur Luigi Loreto, Il bellum iustum e i suoi equivoci. Cicerone ed una componente della rappresentazione romana del Völkerrecht antico, Napoli 2001, mit Cicero auseinandergesetzt. Loretos These, Cicero argumentiere rein juristisch und erst die Christen, namentlich Augustin, hätten aus dem Konzept des bellum iustum als rechtmäßigem Krieg das ethisch aufgeladene des gerechten Kriegs gemacht, ist zu Recht auf Ablehnung gestoßen (vgl. nur die Rezension von K. M. Girardet in: Gnomon 77,5 [2005], 427–434). K. kommt das Verdienst zu, die traditionelle Sicht, im bellum iustum einen juristisch-ethischen Mischbegriff zu sehen, dessen Anbindung an die Idee der Gerechtigkeit gerade Ciceros Anliegen und Leistung war, auf der Basis aller relevanten Schriften gründlich überprüft und neu plausibilisiert zu haben. Auch die zweite Kernthese des Buches, dass sich aus den Zeugnissen bei aller biographischen, situativen und gattungsbedingten Differenz ein im Kern widerspruchsfreies und erstaunlich konstantes Konzept des bellum iustum ergibt, wird überzeugend vorgeführt.
Die Einleitung führt geschickt in den Forschungsstand ein, in­dem statt eines Forschungsberichts die wichtigste Literatur an­hand von Leitfragen vorgestellt (14–19) und daraus das Desiderat einer Untersuchung begründet wird, die das Gesamtwerk in den Blick nimmt, sich nicht von der Rezeption leiten lässt, den philosophischen und zeithistorischen Hintergrund der jeweiligen Schriften berücksichtigt und bei der Begriffsanalyse neben bellum iustum auch das etwas weitere Feld abschreitet, wenn es – wie etwa pax als für Cicero zentrales Kriegsziel – den Kernbegriff erhellen kann (19–21).
Die folgenden vier Hauptteile analysieren, geordnet nach den Schriften De officiis, De re publica, De legibus und einer Gruppe sonstiger Texte (Reden, Briefe und die redetheoretische Schrift De inventione), alle Stellen, an denen Cicero von bellum iustum spricht. Die Wahl der chronologisch spätesten Schrift De officiis als Ausgangspunkt rechtfertigt sich daraus, dass nur hier eine systematisch entwickelte und in einen ethischen Gesamtrahmen eingebettete Theorie vorliegt, anhand derer die fragmentarischen oder punktuellen Äußerungen der anderen Zeugnisse verglichen und beurteilt werden können.
Die Analyse prägt ein gewisser Schematismus. Er erleichtert die Orientierung, trägt aber zusammen mit den zahlreichen kleinschrittigen Zusammenfassungen nicht unbedingt zum Lektüregenuss bei, obschon die sprachliche Darbietung als solche überall klar und sachlich und besonders darum bemüht ist, den Grad der Sicherheit der Interpretation zu benennen.
Der detaillierten linearen Textanalyse geht so regelmäßig eine aus der Standardliteratur gearbeitete zeithistorisch-biographische Kontextualisierung, eine Beschreibung des Aufbaus und eine der Interpretationsprobleme, darunter der Quellenfrage und der philosophischen Zuordnung der jeweiligen Passagen, voraus. Die wichtigsten erörterten Textausschnitte sind off. 1,34–40; 1,74–78; 2,26 f.; rep. 2,31; 3,34 f.; leg. 2,21; 2,34; 3,9; 3,17 f.
Der Abschnitt zu De officiis (23–124) ist nicht nur der längste, sondern auch der am besten gelungene. K. liest die Schrift zweifellos richtig als eine primär philosophische mit politischer Nebenabsicht (27) und bestimmt als Ciceros Hauptanliegen im Bereich des Kriegs, dem militärisch Machbaren ethische Grenzen zu setzen und die Schutzverpflichtung der Großmacht Rom zu betonen. Entsprechend instrumentalisiert erscheint der Begriff des bellum iustum, innerhalb dessen Cicero den rechtlichen, politischen, religiösen und ethischen Aspekt untrennbar zusammenbindet. Trotz kleinerer Unschärfen (so zu off. 1,34 und 2,26 f.; 1,36 zieht das Missverständnis von aut […] aut […] eine folgenschwerere Fehlinterpretation nach sich: Der Akt des res repetere muss keineswegs jedem Krieg vorausgehen!) wird Ciceros aus der stoischen Pflichten- und Tugendlehre und ihrem Gemeinschaftsdenken abgeleitete Doktrin überzeugend rekonstruiert. Als Leitmotive zeigen sich die Verteidigung des Primats einer Politik, die über das Kriegsende hinaus blickt und auf Frieden abzielt, die defensive Grundhaltung, die den Krieg nur als korrektive Gerechtigkeit zulässt, und zugleich die Realitätsnähe (Eigentumserwerb durch Krieg ist legitim, auch der Kampf mit anderen Großmächten um die Suprematie).
Der zweite Hauptteil (125–164) präpariert aus den einschlägigen Fragmenten von De re publica Ciceros dortige Hauptgedanken zum gerechten Krieg methodisch umsichtig heraus, die im Einklang mit De officiis stehen: das Unrecht der Gegenseite als condicio sine qua non, die Zweckbindung an Strafe bzw. Vergeltung oder Gegenwehr, die Rückbindung an die Idee der Gerechtigkeit, die defensive Grundtendenz, welche Eroberungs- oder Beglückungskriege ausschließt.
Der dritte Hauptteil zu De legibus (165–192), dessen Ziel plausibel als Versuch einer philosophisch fundierten Grundsatzkorrektur des politischen Diskurses beschrieben wird, diskutiert Ciceros Entwurf einer Aufwertung der Fetialpriester zu einer Prüf- und Entscheidungsinstanz für die Zulässigkeit von Kriegserklärungen und für die Rechtmäßigkeit von Waffenstillstands- und Friedensverträgen. Das sehr römische Konzept, ein religiöses Gremium mit politischen Kontrollfunktionen zu betrauen, hier der Überwachung der Vertragstreue gegenüber anderen Völkern, wird ebenso überzeugend entwickelt wie die Deutung, den Kernsatz duella iusta gerunto ebenfalls auf eine Beschränkung der Macht der Provinzialbeamten zu beziehen (Verpflichtung auf das Gemein- bzw. Bundesgenossenwohl), um im Krieg keine rechtsfreien Räume entstehen zu lassen.
Eher als Anhang ist der vierte Hauptteil (193–209) zu einigen Reden (div. in Caec. 62, Catil. 2,1, prov. 4, Deiot. 13, Phil. 11,37; 13,35), Briefen (Att. 7,15,3; 9,23,1; 10,5,3; fam. 6,5,5) und der Frühschrift De inventione zu betrachten, in dem sich K. auf die Stellen beschränkt, an denen die Junktur bellum iustum vorkommt, ohne die Texte auf das Konzept des gerechten Kriegs hin durchzusehen. Obwohl die interpretatorische Durchdringung hier nicht überall überzeugt (besonders inv. 2,70 scheint nicht verstanden), gelingt insgesamt der Nachweis, dass Cicero mit bellum iustum von Anfang an das feste Konzept eines auf vorausgehendes Unrecht reagierenden Kriegs verbindet, und dies auch im Bürgerkrieg, selbst wenn er eine staatsrechtliche Bewertung der Gegenseite vermeidet.
Ein Aperçu bleibt das letzte Kapitel (211–220), das Cicero in die Tradition des Nachdenkens über den gerechten Krieg einreihen will. Betont werden anhand eines summarischen Vergleichs mit Platon und Aristoteles als markante Neuerungen der Verzicht auf das Konzept natürlicher Feindschaft zwischen Völkern und die Aufgabe der Unterscheidung zwischen dem Barbarenkrieg, der die Versklavung erlaubt, von dem unter Griechen, dessen Zweck, die Wiederherstellung des Friedens, Cicero universalisiert. Knapp erinnert K., besonders anhand der Kernstelle rep. 3,35, schließlich an wichtige Traditionslinien von den Kirchenvätern Ambrosius und Augustinus über Isidor von Sevilla und das Decretum Gratiani bis zur Scholastik (Thomas von Aquin) und Spätscholastik (Francicsco de Vitoria). Eine ausführliche Zusammenfassung (221–225) rundet den Textteil ab.
Eine besondere Stärke der Arbeit liegt in der kundigen Einbeziehung des rechtshistorischen Aspekts, spielt doch besonders das Fetialrecht, das faktisch auf die Ebene eines Zeremoniells herabgesunken war, in Ciceros Projekt eines reformierten Rechtsstaats eine zentrale Rolle als sakral-politische Instanz römischer Selbstkontrolle. Eine historische Verortung der ciceronischen Doktrin ge­genüber der Praxis der Kriege seiner Zeit nimmt K. hingegen nur selten vor; dem Anliegen des Buches, Ciceros Denken darzustellen, schadet dies nicht.
Mehr als ein Schönheitsfehler ist allerdings die fast ausschließliche Verwendung von Übersetzungen bzw. zweisprachigen Ausgaben, nicht aber kritischen lateinischen Texten, und dies sogar für die zentrale Schrift De officiis. Die parallele Verwendung und Zitation mehrerer deutscher Übersetzungen irritiert eher, als dass sie dieses Manko kompensieren könnte. Gerade angesichts der Bedeutung von (durchaus gelungenen) Wort- und Wortfeldanalysen für die Argumentation gibt dieser dezidiert unphilologische Zug der Arbeit Rätsel auf.
Ein Verzeichnis der Abkürzungen und der verwendeten Literatur sowie ein schlankes Namen- und Schlagwortregister beschließen das Buch. Letzteres konzentriert sich in kluger Auswahl vor allem auf lateinische Worte, die für die Frage nach Krieg und Ethik relevant sind. Die Literatur zum bellum iustum ist in ausreichendem Maß berücksichtigt, auch wenn die Seitenzahl des Literaturverzeichnisses nicht ganz seiner Reichhaltigkeit entspricht. Tipp- und Flüchtigkeitsfehler sind selten; im laufenden Seitentitel des 3. Hauptteils hätte nicht »de ligibus« stehen bleiben sollen.
Die kleinen gravamina ändern aber nichts daran, dass mit K.s Studie eine solide Aufarbeitung von Ciceros Konzept des gerechten Krieges vorliegt. Seine vielfältige Aktualität – nur eines vieler De­tails ist etwa die Unterscheidung von rechtsfähigen Kriegsgegnern und »Räubern« (Terroristen) – und seine jedes politische Kalkül übersteigende Humanität durch die konsequente Überordnung des Gesamtwohls aller in einen Krieg involvierten Parteien gegenüber den Interessen des einzelnen Staates oder der einzelnen Bürgerkriegspartei leuchten, gerade weil K. den Effekt wohlfeiler Ge­genwartsbezüge nicht sucht, immer wieder durch die Analysen hindurch und werden zur kritischen Anfrage an aktuelle Doktrinen.