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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

663-665

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Spalding, Johann Joachim

Titel/Untertitel:

Einzelne Predigten. Hrsg. v. A. Beutel u. O. Söntgerath unter Mitarbeit v. J. Heck, V. Look, M. van Spankeren, Ch. E. Wolff u. R. Zastrow.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XXIII, 470 S. = Johann Joachim Spalding Kritische Ausgabe. Zweite Abtl.: Predigten, 6. Lw. EUR 139,00. ISBN 978-3-16-152626-8.

Rezensent:

Markus Wriedt

Mit diesem Band ist die Kritische Ausgabe der Werke des Berliner Neologen Johann Joachim Spalding abgeschlossen. Die in rascher Folge erschienenen Editionsbände der Spalding-Forschungsstelle in Münster haben somit erstmals das umfangreiche Werk des zunächst äußerst wirkmächtigen, dann aber bald dem historischen Vergessen anheimgefallenen »Meistertheologen« der Neologie (A. Beutel) in einer bibliophil ansprechenden, editorisch höchst verdienstvollen und nicht minder reizvollen Ausgabe erschlossen. Über die »Bestimmung des Menschen« hinaus ist jetzt der Blick in die gleichermaßen breite wie auch die verschiedenen denkerischen Entwicklungen der Zeitläufte der zweiten Hälfte des 18. Jh.s aufnehmende Auseinandersetzung des Berliner Propstes und Oberkonsistorialrates eröffnet.
Dass die Neologie zunächst weniger im akademischen als vielmehr im kirchlichen Rahmen bzw. dem wachsenden Markt der intellektuell-erbaulichen Literatur ihren Diskursraum fand, wird in der Ausgabe durch die Aufteilung in zwei Abteilungen nachvollziehbar sichtbar: Zunächst werden die Schriften und Traktate in einer ersten Zusammenstellung von sechs Bänden erfasst. Die zweite Abteilung enthält sodann vorzugsweise im kirchlichen Raum veröffentlichte Predigten. Erneut liegen auch hier sechs Bände vor, deren letzter hier vorzustellen ist.
Die Sammlung enthält neben etlichen Kasualpredigten aber auch thematisch ausgestaltete Ansprachen und Sonntagspredigten. Die gesammelten Kanzelreden verteilen sich auf das gesamte Kirchenjahr und enthalten einige Ausarbeitungen zu Sonn- und Feiertagen an biographischen Wegmarken, wie etwa die Abschieds­predigt in Lassahn, der letzten Predigt in Berlin am 21. September 1788 zu Eph 6,10, sowie die Rede zur Einsegnung seiner Tochter mit dem Prediger Sack d. J. am 4. September 1770. Von kirchenhistorisch besonderem Interesse dürfte die Gedächtnispredigt auf Friedrich II., König von Preußen, am 10. September 1786 sein, in der Spalding in bemerkenswerter Weise das später allein Friedrich D. E. Schleiermacher zugesprochene Religionsverständnis von der »Empfindung unserer gänzlichen Abhängigkeit von Gott« (75.7 f.) enthält. Dass damit ein anderes als das traditionelle Religionsverständnis begründet wird, ist ebenso sichtbar wie die für dessen Charak-terisierung herangezogene Spannung von Vernunft und Gefühl. Einerseits geht es um Empfindungen, andererseits aber auch um deren rationale Reflexion. In zwei weiteren Predigten thematisiert Spalding diesen innovativen Ansatz, der sich allerdings bei nä-herem Hinsehen als durchaus kompatibel zum traditionellen Luthertum seiner Zeit verhält – noch mehr freilich zum Verständnis der Anfänge der reformatorischen Theologie im 16. Jh. Es handelt sich hier um die erweiterte Predigt von der Einigkeit in der Religion über Joh 10,16 aus dem Jahre 1786, eine Pfingstpredigt zu Joh 3,16–21 und ein Predigtexzerpt zu Mt 24,24. Weiterhin finden sich zahlreiche Predigten zu gewichtigen Feiertagen im Kirchenjahr wie Karfreitag, Pfingsten, Michaelis, Buß- und Bettag sowie zum Jahreswechsel am Neujahrstag.
Als besondere Beigabe findet sich die Traueransprache von Wilhelm Abraham Teller, dem Propst von Neu-Cölln und damit ranghöchsten kirchlichen Vertreter der Berlin-Preußischen Kirche, für den am 22. Mai 1804 verstorbenen Oberkonsistorialrat und Propst an Nikolai in Berlin, die dieser zum Gedenken gehalten hatte. Teller selbst sollte den so Geehrten kaum überleben. Er starb am 9. Dezember 1804 im 71. Lebensjahr. Diese Predigt ist gleichermaßen von der Erinnerung an gemeinsam durchlebte und durchlittene Jahre unter der Bedrückung durch das Woellnersche Religionsedikt vom Juli 1788, in dessen Folge Spalding alle kirchlichen Ämter ruhen ließ, wie auch die Ablehnung des überzogen frommen Gebarens mancher religiöser Kreise aus dem Brandenburg-Preußischen Pietismus geprägt. Zugleich ist die Predigt in ihren behutsamen Anspielungen von hohem Respekt und tiefer Wertschätzung ge­prägt. Eine bessere Würdigung zum Abschluss des Bandes und der Edition ist kaum denkbar.
Entgegen den früheren Bänden fällt die Einleitung dieses Mal äußerst knapp aus. Dies wohl auch darum, weil sich zum einen kaum wesentlich Neues zum Wirkungsfeld von Spalding sagen lässt, zum anderen auch, weil einige Stücke nicht näher zu bestimmen oder zu datieren sind. Wie schon in den vorausgegangenen Bänden findet sich ein knapper Erläuterungsteil, der zunächst die Provenienz der abgedruckten Predigten erläutert. Weiterhin werden Bibelbezüge angegeben, nur sehr kurz und zuweilen unbefriedigend knapp historische Kontexte und Daten verständlich skizziert. Dieser Apparat ersetzt keine Kommentierung, hilft aber die Texte einzuordnen und erleichtert, gerade seiner Knappheit we­gen, auch die Lektüre. In den Registern stecken – wie so häufig – umfangreiche Arbeit und schwerlich zu überschätzende Mühen. Es werden Bibelstellen, geographische Namen, Personen und Sa­chen mit ihren Fundstellen aufgelistet. Die unbestreitbar größte Arbeit steckt in dem überaus detaillierten und sorgfältig ausdifferenzierten Sachregister. Es bietet den Schlüssel zum Eingang in die Texte. Dies freilich nicht nur den interessierten Theologen, die möglicherweise an der einen oder anderen Stelle auch vergeblich nach vertrauten Lemmata Ausschau halten, sondern vor allem auch historisch arbeitenden Philologen und Kulturwissenschaft lern, denen sich in der Fülle der Belege der gesamte Reichtum und die Ästhetik der deutschen Sprache des ausgehenden 18. Jh.s erschließt. Damit hat auch dieser Band erneut seinen festen Platz in wissenschaftlichen Sammlungen zur Geschichte und Literatur, zu Theologie und Frömmigkeit der Aufklärungszeit verdient.
In die Freude über den durch konzentrierte, gleichwohl zügige Arbeit aller in der Münsteraner Editionsforschungsstelle Mitarbeitenden erfolgten zeitigen Abschluss der Ausgabe mischt sich das Bedauern, dass der Editionsplan erfüllt ist und keine weiteren Bände mehr geplant sind. Insofern mit den dann insgesamt 12 Bänden ein essentiell wichtiges Element der Berliner aufgeklärten Theologie dokumentiert wird, stellt sich umso mehr die Frage nach einer Weiterführung des erfolgreichen Editions-Unternehmens. Umso mehr lässt die erteilte Genehmigung eines Langzeitprojekts durch die DFG zum Aufbau einer hybriden Edition einer »Bibliothek der Neologie« hoffen. Es sei aber angemerkt, dass auch die beste digi-tale Edition die Haptik der in Tübingen mustergültig erstellten Bände nicht ersetzen kann. Insofern ist es in Zeiten knapper wer dender Förderungsmittel – nicht zuletzt wegen steigender An­tragsdichte – der Deutschen Forschungsgemeinschaft hoch anzurechnen, dass sie erneut auch für die Druckversion im bewährten Format bei Mohr Siebeck die Mittel zur Verfügung gestellt hat. Für eine vollständige Edition aller relevanten Quellen wird man in diesen Zeiten keine Förderung finden. Das mag den Kenner der Materie schmerzen, allerdings ist auch hier die Verhältnismäßigkeit aufgewandter Gelder zu beachten. So erleichtert das Wissen darüber ganz erheblich, dass zumindest eine Auswahldokumentation weiterer Quellen, darunter hoffentlich auch die Rekonstruktion der Briefkorrespondenzen, erhebliche Einsichten in die theologisch-geistesgeschichtlichen Verbindungen zum einen, zum anderen aber auch in das intellektuelle Netzwerk der Neologen erlauben wird.
Schon jetzt bleibt freilich der kritischen Ausgabe der Werke Spaldings zu wünschen, dass sie in Lehre und Forschung intensiv genutzt wird und für die eine oder andere Studie zu einer theologiegeschichtlich noch immer im Halbschatten liegenden, wenn auch kurzen Zeitphase Anlass geben möge. Der letzte Band der zweiten Abteilung der Schriften Spaldings wird dies sowohl in kirchenhistorischer, allerdings auch predigtgeschichtlicher Arbeit und historischer Homiletikforschung ganz sicher möglich ma­chen. Insofern bleibt zu hoffen, dass die seit einigen Jahren so erfolgreich betriebene Aufklärungsforschung durch die Münsteraner Spalding-Gruppe zahlreiche Nachahmer findet und die immer noch empfindlichen kirchenhistorischen Desiderata diese Epoche betreffend weiter geschlossen werden. Dass dies die Anerkennung für die innovative und entsagungsvolle Kärrnerarbeit der Münsteraner Mitarbeitenden um Albrecht Beutel nicht schmälert – und auch kaum schmälern kann –, muss kaum eigens betont werden.