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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

624-625

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Merkt, Andreas

Titel/Untertitel:

1. Petrus. Teilbd. 1

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 252 S. = Novum Testamentum Patristicum 21/1. Geb. EUR 70,00. ISBN 978-3-525-53974-3.

Rezensent:

Friedrich W. Horn

Das Kommentarwerk Novum Testamentum Patristicum (NTP) hat den Anspruch, die Rezeption des gesamten Neuen Testamentes in der antiken christlichen Literatur zu dokumentieren und sie aus den jeweiligen Zusammenhängen zu erläutern. Das Projekt wurde 1993 durch Kurt Niederwimmer, dem ein patristischer Billerbeck vorschwebte, in Kooperation mit Gerhard May (gest. 2007), Henning Paulsen (gest. 1994) und Basil Studer (gest. 2008) initiiert. Zwischenzeitlich hat die Herausgeberschaft, bedingt durch etliche Todesfälle, Rückzüge und auch Zeiten des Stillstands, komplett ge­wechselt. Das NTP ist auf 45 Bände (39 Kommentar- und sechs Sonderbände) angelegt, die in deutscher oder englischer Sprache erscheinen sollen.
Als erster Band wurde im Jahr 2007 als NTP 9 die von Martin Meiser angefertigte Bearbeitung des Galaterbriefs vorgelegt. Der damalige Herausgeber Gerhard May hatte Martin Meiser als Wissenschaftlichen Mitarbeiter nach Mainz an das Institut für Europäische Geschichte (IEG) geholt und ihn zum Sekretär des Unternehmens gemacht. Zwischen diesem Band von Martin Meiser, dem Pilotband des Projekts, und dem jetzt erschienenen Werk von Andreas Merkt wurden noch vier Begleitbände und ein Sonderband (überwiegend bei V & R, ein Band bei Mohr Siebeck) publiziert, deren Beiträge auf Tagungen zurückgehen und im Wesentlichen ein neutestamentliches Thema in der frühchristlichen Rezeption aufarbeiten und also nicht einer einzigen Schrift verpflichtet sind. Das ehrgeizige interdisziplinäre Projekt Novum Testamentum Patristicum ist an anderer Stelle ausführlich vorgestellt worden: Andreas Merkt, NOVUM TESTAMENTUM PATRISTICUM. Ein Projekt zur Erschließung der Rezeption des Neuen Testamentes in frühchristlicher und spätantiker Zeit, Sacra Scripta X, 1 (2012), 15–38; auch digital einsehbar:http://reviste. ubbcluj. ro/sacra-scripta/publicatii/sacra _scripta/2012/MERKT%20-%20SACRA%20 SCRIPTA% 201 _2012-3.pdf.
Zwischen dem ersten Band (NTP 9) und dem jetzt gerade erschienenen (NTP 23/1) hat es bereits konzeptionelle Veränderungen gegeben. Einerseits gelte es, die jeweiligen Kontexte stärker aufzuarbeiten, um die rezeptive und produktive Bezogenheit der Auslegungen und Rezeptionen auf wechselnde Wissensordnungen besser zu verdeutlichen. Andererseits wurde der Einleitungsteil neu konzipiert, und es wurden im laufenden Text nach den Ab­schnitten 1,1–2; 1,3–12; 1,13–2,3; 2,4–20 Resümees und ein Zwischenfazit am Ende des Bandes eingefügt, was die Benutzerfreundlichkeit er­höhen soll. Um die erste Veränderung umzusetzen, müssen die Be­arbeiterinnen und Bearbeiter die Sekundärliteratur zu den patris­tischen Texten ausführlich studieren und auch die Text- und Übersetzungsgeschichte einer Schrift mit einbeziehen. So sehr diese Veränderungen einsichtig und zu begrüßen sind, so steht doch zu befürchten, dass aufgrund dieser konzeptionellen Verschiebungen das Erscheinen weiterer Bände nicht in schneller Folge erwartet werden kann, zumal wenn so gründlich wie in dem von M. verantworteten Band gearbeitet wird. Die Anfänge seiner Forschungsarbeit liegen, so M. (12), etwa 20 Jahre zurück, und sie sei ohne einen großen Stab von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht zu leis­ten gewesen. Für etliche Quellentexte lag zudem noch keine Übersetzung in eine moderne Sprache vor. Um die Geduld der Abonnenten der Reihe nicht über Gebühr zu strapazieren, haben sich die Herausgeber von NTP und der Verlag V & R dafür entschieden, die Rezeptionsgeschichte des 1. Petrus in zwei Teilen zu publizieren. Dieser erste Teil umfasst neben der ausführlichen Einleitung also die Re­zeption von 1Petr 1,1–2,10, zudem ein sehr ausführliches und hilfreiches Literaturverzeichnis (Quellen, Übersetzungen, Sekundärliteratur) und Register. Ein Er­schei­nungstermin des zweiten Teilbandes oder gar weiterer Bände ist noch nicht genannt worden.
Der Einleitungsteil (15–53) schärft den rezeptionsgeschicht-lichen Blick, damit der Band nicht zu einem Sammelbecken zufällig notierter Parallelen verkommt. In einem ersten Teil wird nach der Stellung des 1. Petrusbriefs im Kanon der Katholischen Briefe gefragt. Standen 1Petr und 1Joh unstrittig am Anfang der Entwicklung des kleinen Kanons der Katholischen Briefe, so scheint die Ergänzung um weitere fünf Briefe an der Siebenzahl orientiert zu sein, die ja auch den von Paulus angeschriebenen Gemeinden und den Sendschreiben der Apk zugrunde liegt. Der Ort des 1Petr in diesem Siebener-Kanon und der Ort dieses kleinen Kanons im entstehenden neutestamentlichen Kanon schwanken. Die Funktion des Siebener-Kanons sei nach Augustin gewesen, einer einseitigen Auslegung der paulinischen Gnadentheologie entgegenzutreten. Der zweite Teil bespricht den 1. Petrusbrief in den Handschriften. Durchgehend werden Zäsuren zwischen 2,12 und 2,13 und zwischen 4,11 und 4,12 gesetzt. Auffallend ist die enge Verbindung des 1Petr mit der Apostelgeschichte. Der dritte Teil bespricht den 1. Petrusbrief in den antiken Liturgien, aufgeteilt in die Jerusalemer, armenische, georgische, koptische, byzantinische, syrische und lateinische Tradition. Hier entspricht der Befund demjenigen der Kanongeschichte: Die Katholischen Briefe werden erst ab der zweiten Hälfte des 4. Jh.s aufgewertet. Da sie zuvor liturgisch nicht verplant waren, eignen sie sich insbesondere zum Auffüllen von Leselücken. Der vierte Teil beschäftigt sich mit Kommentaren zum 1Petr. Insgesamt ist angesichts des ausgesprochen dürftigen und teilweise nicht einmal eindeutigen Befundes festzustellen, dass weder im lateinischen Westen und noch weniger im griechischen Osten die Katholischen Briefe insgesamt oder der 1Petr für sich bevorzugte Auslegungsgegenstände waren. Es ist nicht einmal eine einzige Homilie überliefert, die einen Abschnitt des 1Petr auslegt. Der vorliegende Kommentar des 1Petr muss also ganz wesentlich auf verstreute Einzelrezeptionen Bezug nehmen.
Welchen wissenschaftlichen Ertrag vermittelt dieser Kommentar? In dem Zwischenfazit (204–208) bietet M. eine »übergreifende Erkenntnis, die zunächst verstört und auch frustriert, dann aber vielleicht zu einem tieferen Verständnis der Art und Weise beizutragen vermag, wie mit dem ersten Petrusbrief […] umgegangen wird« (204). Da dieser Brief fast nie als Ganzer rezipiert wurde, erscheint er »im Modus seiner patristischen Rezeption zerstückelt, entstellt und versprengt« (204). In der Rezeption jedoch verwachsen die dem 1Petr entnommenen Teile mit anderen Texten zu neuen Organismen. Es geht um »allelopoietische Transformationen«. Das patristische Neue Testament bildet keine linear kohärente Größe, vielmehr stellen die neutestamentlichen Texte ein grundlegendes Webmaterial dar, dessen Einheit sich dann in der patristischen Literatur weitgehend auflöst in eine Fülle von Einzelfäden. Folgt man dieser Spur, dann ergibt sich ein bedeutsamer Befund: Die Rezeptionen desselben Textes in unterschiedlichen patristischen Schriften weisen interessanterweise oft dieselben Muster auf, und dies auch bei Autoren, die nicht voneinander abhängen, sondern sogar in unterschiedlichen Traditionen stehen« (207).
Die rezeptionsgeschichtliche Aufarbeitung von 1Petr 2,4–10 (149–203) wird zum luziden Beispiel dieser übergreifenden Er­kenntnis. M. zeigt, dass »dem Text Assoziationen hinzugefügt und Akzente gegeben wurden, die zwar keinen Anhalt im Text haben, sich aber aus der Kombination mit anderen, teils typologisch gedeuteten Bi­belstellen ergeben« (201). Dienten die Metaphern von den geistigen Opfern und dem heiligen Priestertum ursprünglich dazu, das Selbstbewusstsein einer bedrängten Minderheit zu stärken, so er­halten sie »im Zuge der Hierarchisierung der Kirche und der Sazerdotalisierung des Amtes eine weitere Funktion«. Sie dienen »der Relativierung einer elitären Sicht des Amtspriestertums und der entsprechenden insti-tutionellen Wirklichkeit einer Dichotomie von Klerus und Laien« (202).