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Ausgabe:

Mai/2016

Spalte:

551-554

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Voland, Eckart, u. Renate Voland

Titel/Untertitel:

Evolution des Gewissens. Strategien zwischen Egoismus und Gehorsam.

Verlag:

Stuttgart: S. Hirzel Verlag 2014. XII, 236 S. m. 8 Abb. u. 4. Tab. Geb. EUR 32,00. ISBN 978-3-7776-2376-4.

Rezensent:

Walter Dietz

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Patenge, Markus: Grundrecht Gewissensfreiheit. Genese, Funktion und Grenzen aus moraltheologischer und rechtlicher Perspektive. Münster: Aschendorff Verlag 2013. 232 S. = Studien der Moraltheologie. Neue Folge, 1. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-402-11926-6.


Eckart Voland lehrte Soziobiologie an der Universität Gießen mit einem Schwerpunkt auf evolutionsbiologischen Fragestellungen. Zusammen mit seiner Frau Renate (Psychologin und Grundschullehrerin) hat er dieses Buch verfasst. Der Reiz einer Wissenschaft liegt oft darin, sie auszuweiten auf das, was phänomenologisch schwer zu fassen bleibt. Freilich weiß auch ein Evolutionsbiologe, wovon er redet, wenn er den Terminus »Gewissen« gebraucht. Er verfolgt dabei seinen eigenen Zugang, doch durch den Verzicht auf eine philosophische, insbesondere phänomenologische Fragestellung bleibt das Resultat dürftig. Man sollte daraus nicht den Schluss ziehen, dass soziobiologische Ansätze grundsätzlich erklärungsarm und monolinear sind, wenn sie von einlinigen Grundprämissen ausgehen und offenkundig mit einem Mangel an Phantasie verbunden sind (also im Kern das markieren, was Kierkegaard 1849 als spießbürgerliche »Verzweiflung der Notwendigkeit« chiffriert hat). Grundlegend ist die Frage, ob das Gewissen überhaupt soziobiologisch erklärt werden kann.
Das Buch unterstellt sich rücklings der fragwürdigen Prämisse, dass die Natur des Gewissens »empirisch«, d. h. im Horizont der »Erfahrungswissenschaften«, zu erschließen sei (19). Damit wird jeder phänomenologische, transzendentalphilosophische oder metaphysische Zugang ausgeblendet. Diese Vorentscheidung und fundamentale perspektivische Beschränktheit ist entscheidend für Wert und Resultat des Buchs. Mit einem soziobiologischen Ansatz zu einer vertieften Einsicht in das Wesen des Gewissens zu gelangen, ist etwa so, als wollte man einem Pfau das Fahrradfahren beibringen – es wirkt weder geschickt noch wirklich schön.
V. definiert das Gewissen (weithin im Gefolge von Darwin und Nietzsche) als »Teil der spontanen prärationalen Verhaltensorganisation, und seine Wirkweise beruht auf impliziten, unbewussten Motiven« (27). Allerdings, so V., kann man nicht »wirklich seriös behaupten, dass das Gewissen Verhalten beeinflusst« (26). Da es für den Einzelnen Aufopferung und subjektiv unvorteilhaften Altruismus impliziert, bleibt rätselhaft, wie(so) sich das Gewissen »evolutionär durchgesetzt hat« (ebd.; und zwar als »evolutionär neues Merkmal«, 57). Die Gretchenfrage lautet: »Wieso gibt es in einer darwinischen Welt […] ein Gewissen?« (46) Wie hältst du es mit der Evolution, wenn du an ein Gewissen ›glaubst‹? Darwin selbst hat (1871) »the moral sense or conscience« als Differenzmerkmal des Menschen herausgestellt, das sich nicht aus seiner tierischen Vergangenheit ableiten lässt, da er es (anders als Nietzsche) auf seinen Intellekt, nicht auf seinen Instinkt bezog (50). Insofern war Darwin geistig der heutigen Soziobiologie weit überlegen.
Evolutionsbiologisch ist die Frage, ob sich das Gewissen »lohnt« (64), obwohl es ja offenbar seine Schattenseiten hat: Scham, Schuldgefühle, neurotische Selbstzerstörungstendenzen bis hin zum Suizid. »Gewissen kann […] tödlich sein.« (73) Glücklich werden wir als gewissenverhaftete Wesen nicht immer. Für V. ist das kein Problem, denn »schließlich hat die Evolution uns nicht geformt, um bedingungslos glücklich zu sein, sondern um die biologischen Grundprobleme von Selbsterhalt und Fortpflanzung zu lösen« (74). So erscheint das Gewissen als paradoxes donum superadditum der Evolutionsgeschichte, eine Zugabe ohne unmittelbare Evidenz und mit fraglicher Existenzberechtigung.
Spezifisch soziobiologisch erweist sich das Kapitel »Gewissensgenese im Spannungsfeld des Eltern/Kind-Konflikts« (78 ff.). Ausgehend von S. Freud (1923) eruiert V., wie das Gewissen durch die Elternautorität formatiert wird (90). Er räumt der Elternautorität klar Vorrang vor gesellschaftlichen Einflüssen ein. Deren konstitutive Prägung des Gewissens sei »durch die familiären Autoritäten zensiert, gefiltert und re-interpretiert« (96).
Im Blick auf den von V. nicht hinterfragten, umfassenden Erklärungsanspruch der Soziobiologie erscheint ein Fortpflanzungsverzicht aus Gewissensgründen fragwürdig. »Der Zölibat erscheint deshalb alles andere als vorgesehen« (129 f.). Daraus schließt V., dass sich die Gewissensevolution nicht eindimensional vollzogen habe, sondern in einem »mehrdimensionalen Kräftefeld« (140).
Analog dazu stellt sich die »funktionslogische Matrix für Selbstmordattentäter« dar (152): Kinder werden zu Helden erzogen, ihr Altruismus sichert den kollektiven Fortbestand (153). Die Rekrutierung erfolgt »entgegen landläufiger Meinung« (EKD u. a.) nach V. nicht aus der »materiell verarmten Schicht«, sondern aus »wohlhabenden Familien« (154), die zudem für den Lebenseinsatz ihrer Kinder fürstlich entlohnt werden. Das Gewissen fungiere hier als »In-s­trument elterlichen Parasitismus an den Lebensleistungen der eigenen Kinder« (154); es wird von V. also rein funktional gedeutet. Die hohe Gewaltbereitschaft der Dschihadisten habe keine religiösen Ursachen, sondern verstehe sich als »Verteidigung einer sozialen Ingroup« (156), einer erweiterten Familie. Das Gewissen er­scheint so als deren »verlängerter Arm« (158). Die Grundthese V.s ist dabei, dass sich »Moralentwicklung […] in der Intimität des sozialen Nahbereichs« vollziehe (163).
Im abschließenden Teil des »Ausblicks« schließt sich V. der Theorie »Siegmund [!] Freuds« an, was die Erklärung der Herkunft von Religion angeht, die V. zu einer »naturalistischen Erklärung von Religionen« (207) ausbauen möchte. »Das Gewissen kommt nicht von Gott, sondern Gott kommt vom Gewissen.« (Ebd.) Schön für ihn – vielleicht auch für uns, möchte man hinzufügen; nur, über die Herkunft des Gewissens gibt weder dieser Satz noch das Buch insgesamt eine befriedigende Auskunft. Vielleicht ist es auch einfach nur so, dass wir eben mit gewissen (stark naturalistisch verengten) Fragestellungen manchen Phänomenen nicht auf die Spur kommen. Eine starke Soziobiologie hätte demnach die Macht der weisen Selbstbeschränkung, eine schwache müsste sich hingegen ideologisch erweitern, um am Ende Glaube, Gott und alle Religionen überflüssig zu machen (ein Ideal auch marxistisch-leninistischer Ideologie). Das Beste beim wissenschaftlichen »Fremdgehen« ist vielleicht der Moment, wo wir scheitern und sehen: Wir stochern im Trüben und unsere Theorien sind oft noch zwielichtiger als das Gewissen selbst. Das Buch von V. ist weithin sehr rhapsodisch und narrativ gestaltet, vermixt verschiedene Forschungsergebnisse mit (durchaus lesenswerten) klassischen Texten, etwa von Shakespeare (Richard III.) oder von Kafka. Schön ist, dass ein Sach- und Personenregister beigefügt ist (allerdings unvollständig; Kafka fehlt z. B.).
Alles in allem sicher nicht anschaffenswert, wenn man ein seriös wissenschaftliches Interesse verfolgt; interessant aber dennoch für alle, die sämtliche Irr- und Holzwege moderner Wissenschaft (wie z. B. der Soziobiologie) teils mit Mitleid, teils mit gewisser Erheiterung verfolgen.
Anders angelegt ist das Buch von Markus Patenge, der als Moraltheologe in St. Georgen (Frankfurt) arbeitet. Von soziobiologischen Erwägungen ist es frei. Die juristische und die katholisch-theologische Problematik stehen im Vordergrund. Das Buch ist konzentriert und materialreich, wenngleich nicht zu thesenfreudig. Sein Hauptmanko besteht darin, die philosophiegeschichtlichen Wurzeln der Gewissensfreiheitsthematik nicht darzulegen (ganz anders als die bei Udo Di Fabio gefertigte Bonner Dissertation von Nikolai Horn: Das normative Gewissensverständnis im Grundrecht der Gewissensfreiheit, 2012, die ausführlich Stoa, Kant, Hegel, Nietzsche, Freud, Luhmann u. a. behandelt).
Die Hauptstärke von P.s Buch besteht darin, dass er hervorragend herausarbeitet, wie sich die Gewissensfreiheit als Implikat der Religionsfreiheit herausbildet. Im Verbund damit zeigt sich, wie das Verständnis von Gewissensfreiheit einem massiven Wandel unterliegt. Ebenso vermag er präzise aufzuzeigen, wie sich das Verständnis des römisch-katholischen Lehramts in dieser Frage gewandelt und fast schon gedreht hat: Pius VII. verurteilt die Gewissensfreiheit (1814), ähnlich Gregor XVI. (1832), der in ihr einen Vorwand zur Subversion des Glaubens sieht. Leo XIII. differenziert Begriff und Aktualisierungsweisen der Gewissensfreiheit: Als negative Religionsfreiheit lehnt er sie ab (Glaubenssubjektivismus wirkt staatszersetzend; 32), als christliche Freiheit, die »erhaben ist über jeden Zwang und jegliche Unterdrückung«, bejaht er sie (29 vgl. 34 zu Rerum Novarum, 1891).
Der Bruch erfolgt erst in Vaticanum II (GS) durch die »anthropologische Wende«, verbunden mit einer Bejahung des Autonomieprinzips. Der zentrale Text GS 16 wird von P. so verstanden, dass »der Primat der Wahrheit vor der Freiheit aufgegeben« wird (43 cf. 33); auch ein objektiv irrendes Gewissen verliert seine Würde nicht. Selbst wenn sich in GS 26 der Terminus »Gewissensfreiheit« (libertas conscientiae) nicht finde, werde sie dennoch als Teil unveräußerlicher Menschenrechte verstanden (43). Der Schutz dieser Rechte werde nicht mehr naturrechtlich begründet, sondern im »Evangelium« die zentrale Schutzinstanz gesehen (44). Zur »an­thropologischen Wende« gehöre auch, dass das forum internum im Blick auf Gewissens- und Religionsfreiheit anerkannt werde (47 zu DH 3), auch im Blick auf den »Verpflichtungscharakter des Gewissens« (48). Die Ausführungen des Katholischen Erwachsenen-Katechismus (1995) machten Gewissensfreiheit stark, warnten aber davor, »unter dem Deckmantel der Gewissensfreiheit« kriminelle Akte zu rechtfertigen (z. B. »Terrorismus«, 54).
Im Blick auf die Genese der Religionsfreiheit rekurriert P. auf den Augsburger Religionsfrieden, der 1555 nicht eine allgemeine Religionsfreiheit proklamiert, sondern nur Katholiken und Lutheraner anerkennt. P. verweist darauf, dass 1648 (Westfälischer Friede) »die Gewissensfreiheit ausdrücklich genannt« werde (66). Er arbeitet heraus, dass sich noch im Allgemeinen Preußischen Landrecht (1794) die »Gewissensfreyheit« allein auf ein »religiöses und nicht ein sittliches Gewissen« beziehe (68). Auch die Paulskirchenverfassung (1848) kenne noch keine Gewissensfreiheit als »selbständiges Recht« (72); d. h. auch hier noch läuft Gewissensfreiheit in, mit und unter der Religionsfreiheit, als deren Ingredienz.
Noch in Art. 135 f. WRV (1919) wird die Gewissens- der Bekenntnisfreiheit subsumiert, sie aber bereits ansatzweise »im Sinne einer gewissensgeleiteten Handlungsfreiheit« gedeutet (75). Im GG (1949) Art. 4.1 habe sich die Gewissensfreiheit dann »endgültig« von ihrer religiösen Einbindung emanzipiert (82 cf. 84). P. vertritt die These, damit vollziehe das GG die »Rückbesinnung auf den eigentlichen Gehalt des Gewissens« (83, Hervorhebung W. D.), während z. B. bei Luther (cf. 61.83) das Gewissen gleichsam noch religiös umschleiert war. Der Prozess der Verselbständigung der Gewissensfreiheit wird von P. begrüßt, weil sich nur in der Loslösung von der Religionsfreiheit »das Proprium der Gewissensfreiheit« herauskristallisieren konnte (213).
Im Blick auf die Auslegungsgeschichte des GG (Kapitel II) verweist P. auf den Verfassungsgrundsatz, dass »prinzipiell jedes Grundrecht« (nicht jedoch Art. 1.1 – die Menschenwürde ist ihrerseits Beschränkungsschranke!, 127) »innerhalb eines gewissen Rahmens beschränkt werden kann« (118), so auch Art. 4.1 im Blick auf das forum externum. P. selber macht den Zusammenhang von bewusstseinsmäßiger und handlungsrelevanter Gewissensfreiheit geltend: Gewissensschutz zuzugestehen, aber die »konkrete moralische Position« von ihm auszunehmen, scheint fragwürdig (so P. ganz zu Recht in der ausführlichen Fußnote 305 zu Horn). So hat das auch das BVerfG 1988 gesehen (BVerfGE 78,391 ff.). Eingriffe in das forum internum sind grundgesetzwidrig (und auch moralisch unzulässig, 209), solche in das forum externum strittig (denkbar nur bei Kollisionen mit »Werten von Verfassungsrang«, 168).
Was die Geschichte des Begriffs Gewissen angeht, hebt P. die »zwei Gewissensaspekte« bei Thomas von Aquin in ihrer Unterschiedenheit hervor (136–140; klarer als Horn 2012, 21 ff.): Conscientia und Synderesis. Hiervon leiten sich lehramtlich »zwei Bedeutungsdimensionen« ab, nämlich »eine anthropologisch-immanente und eine theologisch-transzendente« (143). Deren Verhältnis ist nicht immer spannungsfrei, wie auch P. sieht. Was die Verobjektivierung einer subjektiven Gewissensentscheidung angeht, gibt es naturgemäß enge Grenzen. »Ein zweifelsfreies Instrumentarium zur Feststellung eines Gewissensentscheids gibt es nicht.« (155; nur »Indizien«)
In einem weiteren (III.) Kapitel beurteilt P. die Eingriffe in die Gewissensfreiheit ethisch (169 ff.), wobei er sich in scholastischem Argumentationsduktus einfindet, aber auch neuere Aspekte der Verantwortungsethik mit einbezieht (R. Spaemann; J. Nida-Rümelin; K. Bayertz; L. Honnefelder; E. Schockenhoff u. a.).
Am Ende des Buches (das leider ganz ohne Register erscheint) resümiert P., dass es darum gehe, der »gegenwärtigen Unbestimmtheit des Gewissensbegriffs entgegenzutreten« (214) sowie einer Begriffsverwirrung, die dazu führe, dass Gewissensfreiheit auf positive Religionsfreiheit reduziert wird (13, gegen M. Nussbaum 2008). P.s differenzierte, behutsame Studie versucht diese Verwirrung zu reduzieren. Das ist ihr, nicht ohne eine gewisse Sophistik, durchaus gelungen. Wenngleich die philosophiegeschichtliche Einbettung des Begriffs leider fehlt, ist das Buch von hohem Informationsgehalt.