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Ausgabe:

Mai/2016

Spalte:

458-460

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Reif, Stefan C., Lehnardt, Andreas, and Avriel Bar-Levav [Eds.]

Titel/Untertitel:

Death in Jewish Life. Burial and Mourning Customs Among Jews of Europe and Nearby Communities.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2014. XIX, 379 S. m. Abb. = Studia Judaica, 78; Rethinking Diaspora, 1. Geb. EUR 119,95. ISBN 978-3-11-033861-4.

Rezensent:

Susanne Talabardon

Der von drei namhaften Judaisten herausgegebene Sammelband bietet in mehrfacher Hinsicht etwas Besonderes: Er stellt sich der bisher kaum wahrgenommenen Aufgabe, Traditionen und Konzepte im jüdischen Umgang mit Tod und Trauer in einer weiten sozio-historischen Perspektive zu betrachten.
Diese Unternehmung vollzieht sich in drei Schritten, wie sie in den korrespondierenden Hauptteilen des Buches Widerhall finden: Zunächst geht es um eine allgemeine Kontextualisierung der jüdischen Trauerriten nach ihrer inneren Struktur (Bar-Levav), nach ihrem christlichen »Gegenüber« (Paxton) und nach ihrer historischen Ursprungssituation (Shepkaru). In einer nächsten Etappe werden wesentliche textliche Bestandteile des mittelalterlichen aschkenasischen Ritus auf ihre Entstehung, christliche Einflüsse und historische Wandlungen hin untersucht (Beiträge von A. und P. Lehnardt, Langer, Lifshitz, Gross, Schur, Barak). Im dritten und letzten Teil des Werks nehmen die Autoren schließlich Friedhöfe und Epitaphe als die entscheidenden materialen Zeugen der jüdischen Sepulkralkultur in den Blick. Schwerpunkte der Darstellung bilden wiederum – passend zu den Untersuchungen in Teil 2 – frühe aschkenasische (Reiner, Hüttenmeister/Lehnardt) und italienische Grablegen und Inschriften (Malkiel, Perani). Die Perspektive der Betrachtung wird jedoch mittels einer abschließenden Untersuchung auf Grabstätten der Romano-Familie im Osmanischen Reich (Rozen) erweitert.
Die Beiträge fußen größtenteils auf Vorträgen, welche auf einer im Mai 2010 in Tel Aviv veranstalteten Konferenz gehalten wurden. Alle im Sammelband enthaltenen Untersuchungen finden sich eingangs des Buches zusammen mit ihren jeweiligen Autoren eingeführt und vorgestellt (vgl. XIII–XIX). Mehrere Indizes (359–379) komplettieren das Werk.
Der erste aus der Sequenz von Grundsatzessays, »Jewish Atti-tudes towards Death« (Avriel Bar-Levav, 3–15), verfolgt das Ziel, ein »framework for depicting and understanding the varied Jewish attitudes towards death […] since the medieval period« vorzuschlagen (3). Bar-Levav versucht seinem Ansinnen durch eine Art »Koordinatensystem« gerecht zu werden, dem er einige Hauptmerkmale (»axes«) zuweist, die es zu beachten und zu beobachten gelte. Im Hauptteil seiner Ausführungen (4–14) skizziert er diese. Der Tod und seine Begleiterscheinungen seien, so die Hauptthese, im jüdischen (kulturellen) Orbit eher marginal (6–7.14–15), wiewohl die Angelegenheit komplizierter ist, als es auf den ersten Blick aussieht. Dem Eindruck kann man sich ohne Weiteres anschließen.
Auch dem zweiten Beitrag, »The Early Growth of the Medieval Economy of Salvation in Latin Christianity« (Frederick S. Paxton, 17–41), kommt besondere Bedeutung für das Gefüge des Sammelbandes zu. Auch ihm geht es darum, ein »unifying framework« (17) für die Deutung des Austauschs zwischen den Lebenden, den Toten und dem Gericht Gottes, letztlich also für die »oeconomia salutis«, zu entwickeln. Zu diesem Zweck bietet Paxton zunächst eine Definition des Begriffs (18–20) an, bevor er sich an eine Darstellung der historischen Entwicklung jenes Konzepts macht, die zugleich wesentliche Etappen der Forschungsgeschichte beschreibt (20–37). Insgesamt ist Paxton ein informativer und anregender Einstiegsartikel gelungen, der über wesentliche Kontinuitäten und Wandlungen christlicher Deutung von Tod und Sterben orientiert. Zusätzliches Gewicht erhält Paxtons Beitrag dadurch, dass er (vgl. 37–41) die Vorträge seiner überwiegend jüdischen Kolleginnen und Kollegen referiert und einer Gesamtperspektive zuordnet, die auch religionskomparatistische Sichtweisen anregt. In einem quasi umgekehrten Blickwinkel – von jüdischen zu christlichen Phänomenen – respondiert Stefan C. Reif die Ausführungen Paxtons (»A Response«, 43–50): »Wie es sich christelt, so jüdelt es sich« (43).
Der letzte im Bunde der Überblicksessays ist Shmuel Shepkarus »From Here to the Hereafter: The Ashkenazi Concept of the After-life in a Crusading Milieu« (51–62). Er thematisiert die dramatischen Änderungen, die aus den Massakern der Kreuzzüge für die jüdischen Vorstellungen zu Auferstehung und dem Leben nach dem Tod resultierten. Dabei ergibt sich als ein erstaunlicher Be­fund, dass in den jüdischen Kreuzzugschroniken kaum auf die Auferstehungshoffnung Bezug genommen wird (60–61). Shepkaru verhandelt wesentliche theologische Konzepte, die sich in den Texten finden, im Kontext der jüdisch-christlichen Auseinandersetzungen der Kreuzzugsära.
Im zweiten Hauptteil der Sammelbandes (»Texts in Society: Liturgy and Ritual«) schließlich rücken verschiedene liturgische Texte in den Mittelpunkt der Betrachtung: Einige davon zeigen eine klare komparatistische Perspektive (z. B. Andreas Lehnardt, »Christian Influences on the Yahrzeit Qaddish«, 65–78; Joseph Isaac Lifshitz, »Av ha-rahamim: On the ›Father of Mercy‹ Prayer«, 141–154), wie sie auch für christliche Theologinnen und Theologen mit großem Interesse zu rezipieren ist. Zwei (inhaltlich aufeinander bezogene) Beiträge (Ruth Langer, »Investigation into Early Euro-pean Form of Śidduq ha-Din«, 79–97; Peter Lehnardt, »Ha-Śur Tamim be-khol Po’al«, 99–140) befassen sich mit der Entstehung und Deutung von Gebetstexten aus der Beerdigungsliturgie. Letztgenannte Essays dürften vor allem von Judaistinnen und Judaisten rezipiert werden, da sich aus ihnen Einsichten in die Textentwicklung eines zentralen Trauerpoems gewinnen lassen. Mit der Textgeschichte von Trauerpoesie befassen sich auch Joseph Lifshitz (»Av-ha-rahamim«) und Abraham Gross (»Liturgy as Personal Memorial«, 155–169), wobei diese – im Unterschied zu den Aufsätzen zum Śidduq ha-Din – ihre Untersuchungen in einen nicht nur für Spezialisten interessanten Rahmen stellen.
Zwei weitere Aufsätze ergänzen den Mittelteil des Bandes: In ihnen stehen keine liturgischen Texte, sondern mit Friedhöfen verbundene Phänomene und Riten im Mittelpunkt: So befasst sich Yechiel Schur (»When the Grave was searched«, 171–185) mit dem Phänomen der Wiedergänger im mittelalterlichen Aschkenas und lädt wiederum zu Vergleichen mit entsprechenden christlichen Motiven ein. Dabei wird deutlich, dass es sich um eine kulturelle Universale handelt, die nicht einfach als Folklore oder Volksglaube abgetan werden kann. Nati Barak (»Early Ahkenazi Practice«, 187–195) fragt nach dem Ursprung des Brauches, sich mit Teilen der Mitgift bzw. der Brautgabe beisetzen zu lassen, und wirft dabei interessante Seitenblicke auf das Phänomen gelehrter jüdischer Frauen im Mittelalter.
Aus dem dritten und letzten Teil des Werks – mittelalterliche Friedhöfe und Epigraphik betreffend – sollen die Abhandlungen zu den jüngst publizierten bzw. entdeckten Grabsteinen aus Würzburg (Avraham Reiner, »The Dead as Living History«, 199–211) und Mainz (Lehnardt/Hüttenmeister, 213–223) hervorgehoben werden. Hierbei handelt es sich nicht nur um die bedeutendsten Zeugnisse früher aschkenasischer Sepulkralkultur, sondern zugleich um tragisch-spannende Entdeckungs- und Bewahrungsgeschichten, die es allemal wert sind, Beachtung zu finden. Insbesondere Reiner gelingt es, den geschickt ausgewählten Epigraphen interessante Auskünfte zur Geschichte der großen Gemeinde Würzburg und zu den dramatischen Schicksalen Einzelner zu entlocken. Im dritten Teil des Bandes illustrieren etliche Abbildungen die Bedeutung der jeweiligen Funde und Dokumentationsprojekte.
Der von Reif, Lehnardt und Bar-Levav herausgegebene Band bietet einen umfassenden und sehr anregenden Einblick in ein Forschungsfeld, das innerhalb der Judaistik zu Unrecht (noch) ein Randphänomen darstellt. Mit seinem systematischen Einbezug christlicher (Parallel-)Entwicklungen dürfte das Werk zudem auch für Rezipienten mit einem (christlich-)theologischen oder religionswissenschaftlichen Hintergrund sehr interessant zu lesen sein.