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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

434-436

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Grosse, Sven

Titel/Untertitel:

Ich glaube an die Eine Kirche. Eine ökumenische Ekklesiologie.

Verlag:

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015. 284 S. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-506-78297-7.

Rezensent:

Harald Seubert

Sven Grosse hat eine »ökumenische Ekklesiologie« vorgelegt, die kontroverse Fragen nicht ausblendet, jedoch nicht die Abgrenzung, sondern das hermeneutische Prinzip des Wohlwollens dem Konfessionsgespräch zugrunde legt. Dabei wird ein klar reformatorischer Ge­sichtspunkt eingenommen, allerdings im ungetrübten Blick auf die Einheit der Kirche, in einer bemerkenswerten historischen und dogmengeschichtlichen Instrumentierung und in ständigem Gegenüber zu römischem Katholizismus und Freikirchen. G.s Darlegungen überzeugen gleichermaßen durch die stupende historische Kenntnis und das konstruktive Vermögen. Als überaus fruchtbar erweist es sich, dass G. die Frage nach der Kirche im Gesamtraum der Dogmatik entfaltet.
Im ersten Teil seines Werkes fragt G. nach dem »Wesen der Kirche«: eine im akademischen Diskurs kaum mehr übliche grundlegende, geradezu metaphysische Frage, die aber an einem Sujet wie der Ekklesiologie höchst berechtigt ist, wird mit der Wesensfrage doch das in allen Veränderungen situationsinvariant Wahre thematisiert. Ausgehend von leitenden Definitionen in Karl Barths »Kirchlicher Dogmatik« und in der Konstitution »Lumen gentium« des Zweiten Vaticanum expliziert Grosse die klassischen Binnendifferenzierungen in Ecclesia insivibilis und Ecclesia visibilis; Ecclesia universalis und Ecclesia particularis und schließlich in Ecclesia triumphans und Ecclesia militans als notwendige Komplementäraspekte. Entscheidend ist dabei, dass G. aus reformatorischer Sicht die Berechtigung der Rede von der Kirche als Sakrament und Heilsmittlerschaft rekonstruiert.
Hinsichtlich der Identifizierbarkeit der Kirche votiert G. für die Unterscheidung eines dreifachen Blickes: den Blick Gottes, der allein die Seinen erkenne (2Tim 2,19), den Blick der Gläubigen und ihre Selbstbeschreibung im Sinn der »notae ecclesiae« und schließlich den Blick der Nicht-Glaubenden und die Perspektive der nicht-kirchlichen Welt.
Für G. sind Einheit und Katholizität der Kirche wesentliche Eigenschaften, die er biblisch und in Analogie zur Trinitätstheologie bestimmt. Einem freikirchlichen Kongregationalismus erteilt er deshalb eine deutliche Absage. Die Bedeutung der Ortsgemeinde verkennt er gleichwohl nicht. Sie dürfe sich aber nicht genug sein.
Bemerkenswerte Überlegungen widmet er sodann der Heiligkeit der Kirche: Sie darf aber nicht verkennen lassen, dass mit der Sünde einzelner ihrer Glieder auch eine Sünde der Kirche insgesamt verbunden ist. Heilig ist die Kirche als Gemeinschaft der Gerechten und Sünder aufgrund der ihr verheißenen Teilhabe an der Heiligkeit Gottes.
Ungeachtet des mit der Taufe erworbenen allgemeinen Priestertums der Gläubigen ist nach G. eine Differenzierung der Kirche in Stände anzuerkennen, die allerdings nicht hierarchisch zu verstehen sind. Der erste Teil schließt mit einer prägnanten Darstellung von Aufgaben und Tätigkeiten der Kirche und der Bestimmung ihres Verhältnisses zur Welt. Sehr instruktive Überlegungen stellt er in diesem Zusammenhang zum evangelischen Kirchenrecht an: Die Kirche dürfe sich ihre Rechte nicht vom Staat vorgeben lassen. Eine säkular institutionalistische Interpretation ihres Selbstverständnisses laufe Gefahr, in diese Richtung abzugleiten. Für G. findet der Wesenscharakter der Kirche im Gottesdienst seine Verdichtung, nach innen ebenso wie nach außen. Obwohl die Kirche in der Welt bewusst in einer Minderheitenposition bleibt, hat sie nach G. auch eine kulturelle Aufgabe: Er nennt insbesondere die »Hebung der Moralität« und ebenso die Förderung von Wissenschaften und Künsten.
Der zweite Teil des Werks wendet sich der Ämterfrage zu. Lehramt, Amtseinsetzung und Rechtsprechung sind die apostolischen Vollmachten, die in Leitungs- und Institutionenstrukturen überführt bleiben müssen. Für die ökumenische und kontroverstheologische Klärung sind die subtilen Überlegungen zum Priester- bzw. Predigeramt von besonderem Gewicht. G. zeigt, dass und wie sie auf Sakramenten- und Opferverständnis bezogen sind. Nicht minder wichtig dürften die Überlegungen zu Laien und Klerikern sein. Entscheidend ist letztlich, dass zwei Ströme unterschieden werden, de­ren die Kirche bedürfe: Der Strom der geistlichen Fundierung durch Bibel und Wirkung des Heiligen Geistes und jener des kirchlichen Amtes. Sie müssen in der Balance gehalten werden, damit weder Sterilität und Überkontrolle noch eine Lehr- und Kultuswillkür sich Bahn brechen. Mit kritischer Offenheit prüft G. die Berechtigung des Petrusamtes, nicht ohne die Probleme zu benennen, die in dessen monarchischer Institutionalisierung liegen. Auch im Blick auf die Lehramtsfunktion wird festgehalten, dass Lehrordnungen unerlässlich sind und keineswegs durch psychologisierende »Ungedeihlichkeitsverfahren« abgelöst werden können, dass aber jede Instanz kirchlicher Konsensbildung irrtumsfähig ist. Auch von hier her er­hebt sich die Forderung, auf ein monarchisches Element zu verzichten, um Gott als einzigem Herrn der Kirche das Recht zu geben.
G.s Ekklesiologie ist gleich weit von Krisendiagnose und Alarmismus wie von ekklesialer Selbstzufriedenheit entfernt. So widmet er sich im letzten Teil den »Gefährdungen der Kirche« heute und ihrer Überwindung. Er hebt drei Gefährdungen hervor: die Verweltlichung, die Tyrannei in der Kirche und die – oftmals im Namen von Erneuerung und Rückbesinnung geschehenden – Spaltungen. G. gelingt auch hier größtmögliche Fairness gegenüber dem Konzept der Volkskirche und jenem der Freikirchen. Er schreibt beiden Lektionen ins Stammbuch, wie sie mit ihren Ge­fährdungen umgehen können, und würdigt ihr grundsätzliches Anliegen. Die eine Kirche Gottes bestehe in verschiedenen »Fragmentkirchen« weiter. Von hier aus legt sich für G. nahe, dass das interkonfessionelle Gespräch Divergenzen und die Wahrheitsfrage nicht ausklammern, aber auf die Verurteilung als »Irrlehren« verzichten sollte. Hierzu ist die Überlegung hilfreich, dass es Spaltungen gibt, die keineswegs auf Apostasie oder Häresie beruhen.
Diese Ekklesiologie verbindet in mustergültiger Weise Klarheit und Tiefe. Sie nimmt Abstand von den empirischen und »pragmatischen« Ansätzen, die die Reflexion über die Kirche derzeit dominieren. Gerade durch ihre historische und systematische Tiefenschärfe aber hat diese Ekklesiologie in den verschiedenen Kon-fliktfeldern Wesentliches zu sagen und Vorschläge für den ökumenischen Prozess zu unterbreiten, die wirklich weiterführen könnten: Im Geist des ökumenisch zu verstehenden Grundsatzes »ecclesia semper reformanda«.