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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

399-403

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Stekeler-Weithofer, Pirmin

Titel/Untertitel:

Hegels Phänomenologie die Geistes. Ein dialogischer Kommentar. 2 Bde.

Verlag:

Hamburg: Felix Meiner Verlag 2014. Bd. 1: Gewißheit und Vernunft. 1253 S. = Philosophische Bibliothek, 660a. Lw. EUR 128,00. ISBN 978-3-7873-2471-2. Bd. 2: Geist und Religion. 1080 S. = Philosophische Bibliothek, 660b. Lw. EUR 98,00. ISBN 978-3-7873-2472-9.

Rezensent:

Paul Cruysberghs

Hegels Phänomenologie des Geistes ist ein monumentales Werk (XCI + 765 Seiten in der ersten Ausgabe), in großer Hast, so wird manchmal behauptet, geschrieben und, nach Hegels eigener Auskunft, »in der Mitternacht vor der Schlacht bei Jena« (am 14. Oktober 1807) beendet.
Das Buch hat für manche Philosophen den Status eines Kultbuchs. Unzugänglich (der Vergleich mit James Joyces Ulysses scheint sich aufzudrängen), aber dauernd faszinierend, wird es bis heute von manchem einsamen Leser, aber auch innerhalb nicht weniger philosophischer Kreise und Seminare gelesen und nochmals gelesen – in der Hoffnung, irgendwann einmal den endgültigen Schlüssel zum Werk zu entdecken, um dann jedes Mal festzustellen, dass das Werk am Ende doch wesentlich verschlossen bleibt. Dazu kommt, dass Hegel selbst spätestens ab der Einleitung zur Wissenschaft der Logik von 1812 das Projekt einer Phänomenologie des Geistes als Einleitung zum System der Philosophie aufgegeben zu haben scheint, so dass das Buch, von der Perspektive des reiferen Hegel aus gesehen, überflüssig oder zumindest überholt gewesen zu sein scheint. Trotzdem bleibt das Buch ein Klassiker, vielleicht der Klassiker par excellence der klassischen deutschen Philosophie.
Etliche Kommentare zur Phänomenologie sind bis heute ge­schrieben worden. Jedes Mal haben Leser sich Hoffnungen ge­macht, endlich einen zuverlässigen Führer gefunden zu haben. Aber alle Kommentare haben sich als unzureichend erwiesen. Das Werk scheint sich einer Globalinterpretation zu entziehen.
Pirmin Stekeler-Weithofer, Professor an der Universität Leipzig und einer der bekanntesten Hegel-Forscher der Gegenwart, hat sich auch an einen Kommentar der Hegel’schen Phänomenologie gewagt. Das Buch bietet den vollständigen Text Hegels, nach dem Beispiel der englischen Übersetzung von Arnold V. Miller in Paragraphen durchgezählt (mit einigen Abweichungen von dem englischen Beispiel), und kommentiert diesen Satz für Satz. Zusammen mit dem Text ist es mehr als 2300 Seiten lang. Hegels Text ist in einer kleineren Drucktype wiedergegeben. Am Rand findet man die Nummer des kommentierten Paragraphen und am Ende eines jeden Ausschnitts folgt die Seitenangabe der von Hans-Friedrich Wessels und Heinrich Clairmont 1988 herausgegebenen Studienausgabe des Texts in der sogenannten Grünen Reihe (der Philosophischen Bibliothek) des Felix Meiner Verlags, in der auch der Kommentar des Vf.s erschienen ist. Glücklicherweise wird auch die Originalpaginierung des Buches angegeben, so dass man die betreffende Seite leicht im neunten Band der kritischen Gesamtausgabe finden kann.
Es ist die Ambition des Vf.s, Hegels Text »lesbar(er)« zu machen (23). Selbstverständlich stellt sich die Frage, wie man das machen soll. Teilweise hängt das von der Art Leser ab, den man zu erreichen hofft, teilweise auch von den eigenen Interessen und Kapazitäten des Kommentators. Man könnte zum Beispiel versuchen, den Text dadurch zu klären, dass man möglichst viele der in der Phänomenologie immer nur implizit vorhandenen historischen Verweise aufzudecken sucht. Das hat Jean Hyppolite in seinem 1946 erschienenen und noch immer sehr lesenswürdigen Genèse et structure de la Phénoménologie de l’esprit de Hegel gemacht. Oder aber man kann sich, wie Pierre-Jean Labarrière in seinem eindrucksvollen Buch Structures et mouvement dialectique dans la Phénoménologie de l’esprit de Hegel (1968), viel ausdrücklicher und mit viel größerer Sorgfalt als Hyppolite auf die innere Struktur der Phänomenologie konzentrieren. Merkwürdigerweise fehlt Labarrière mit diesem Buch, aber auch mit seiner La Phénoménologie de l’esprit de Hegel. Introduction à une lecture (1979) in den beiden ausführlichen Literaturlisten des Vf.s. Es könnte sein, dass der Vf. Labarrière ganz einfach vergessen hat, wahrscheinlicher aber ist es, dass sein Projekt sich so entschieden vom Unternehmen Labarrières unterscheidet, dass das Nichterwähnen eines Buches, das jedenfalls mir selbst und vielen anderen Hegelforschern, die mehr mit der französischen Hegel-Literatur vertraut sind, sehr geholfen hat, die komplexe Struktur der Phänomenologie zu verstehen, fast selbstverständlich scheint. Was der Vf. mit seinem Kommentar beabsichtigt, ist von ganz anderer Art. Sein ideales Publikum ist nicht der professionelle Hegelforscher, aber auch nicht, so vermute ich jedenfalls, der durchschnittliche deutsche Philosophiestudent, sondern ein ganz besonderer Typus von Student und Leser: derjenige, der einerseits mit den Handlungstheorien der neueren (deutschen) praktischen Philosophie, andererseits mit der sogenannten angelsächsischen oder analytischen Philosophie vertraut ist.
Was die Handlungstheorien betrifft, kann ich kurz sein. Ganz zu Recht bemüht sich der Vf., Hegels Phänomenologie und seine Philosophie im Allgemeinen als eine Handlungstheorie zu interpretieren. Denken, also Theorie, ist dem Handeln nicht entgegengesetzt, sondern selbst eine besondere Handlungsweise. Nicht zufällig betont der Vf. immer wieder, dass Denken auch bei Hegel immer schon als sprachlich und damit auch als ein Akt gedacht werden muss. Deshalb kann er behaupten, die Sprache sei »das Äußere und damit das Reale des Geistes« (39) und Sprechen sei immer ein Handeln, ein »Sprechhandeln« (38).
In Übereinstimmung mit der Präferenz für handlungstheoretische Überlegungen steht, dass der Vf., wie auch Michael Quante, zu denjenigen deutschen »Hegel scholars« gehört, die die analytische Philosophie mit Enthusiasmus aufgegriffen haben und zugleich gründlichen Sachverstand bezüglich der klassischen deutschen Philosophie besitzen.
Wie die meisten heutigen Hegelforscher entscheidet sich der Vf. für eine Hegel-Interpretation, die sich gegen die klassischen Stereotypen kehrt. Am auffälligsten ist vielleicht seine Abweisung derjenigen Interpretationen, die man am deutlichsten bei Heidegger und seinen Schülern findet, Hegels Philosophie sei eine Onto-Theologie. Der Vf. verweist ganz richtig auf die revolutionäre Rolle der Logik in Hegels Philosophie, die Ontologie nur vom Denken her (als objektive Logik) zu begreifen erlaubt. Und was den theologischen Gehalt des Hegel’schen Denkens betrifft, akzeptiert der Vf. selbstverständlich die wesentliche Funktion der Religion innerhalb der Entwicklung der Phänomenologie und der Geschichte, aber zugleich betont er, dass im absoluten Wissen die religiöse Denkform aufgehoben und von der Philosophie überholt (worden) sei. Wenn Hegel sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart angehört, dann bemüht der Vf. sich deutlich, Hegel vor allem als einen gegenwärtigen Denker zu profilieren.
Deshalb liegt es nahe, Hegel gerade der analytischen Philosophie näherzubringen. Im Kontext einer weltweiten Hegemonie der angelsächsischen Kultur hat eine rein historische (wir sollen zuerst Hegel zu buchstabieren lernen, so hat man uns, der inzwischen älteren Generation, beigebracht) oder eben eine klassisch hermeneutische Interpretation nicht mehr so viel Zukunft. Zugleich ist es illusorisch zu meinen – und dies weiß der Vf. selbstverständlich auch –, dass ein analytisches Vokabular für jeden Leser geeignet ist. Wer nicht mit Quine, Frege, Carnap, Wittgenstein oder Brandom vertraut ist, dem werden vermutlich bestimmte Diskussionen oder Explikationen in diesem Kommentar nicht helfen. Auf der anderen Seite werden viele von Hegels technischen Termini entmystifiziert und für den heutigen Leser mindestens versuchsweise akzeptabel gemacht.
Ein gutes Beispiel bietet die Explikation zentraler Hegeltermini wie »Geist« oder auch »absoluter Geist«. Irgendwie polemisch und zugleich simplifizierend betont der Vf., dass »die Rede über den Geist […] logisch in klarer Analogie zur Rede über den Menschen – und zu allen generischen Gebräuchen der wichtigen Pronomina ›wir‹ und ›man‹ [steht]« (27). Selbstverständlich ist damit noch keine Definition des Geistes gegeben, aber die Hinweise auf die Analogie mit dem Terminus »Mensch« und den Pronomina »wir« und »man« zeigt jedenfalls, dass die Denotation des Geistbegriffs mit der des Menschen zusammenfällt und dass man überhaupt nicht an eine übermenschliche oder göttliche Instanz denken soll. Der Vf. betont übrigens immer wieder, und darin hat er absolut Recht, Geist sei für Hegel nie nur »Teilnahme an einer allgemeinen Praxis«, sondern immer auch personales Subjekt, »das emphatische Selbstbewusstsein des Ich, das sich erst aus einem diffusen transzendentalen Wir oder Man entwickelt« (27–28). Nur die Interaktion von beiden Instanzen, eines Ich, das Wir, und eines Wir, das Ich ist, ergibt eine richtige Auffassung des Geistes. Mit der Betonung dieses dialektischen und dynamischen Zusammenhangs von einem System gemeinschaftlicher Praxisformen und Institutionen einerseits und von subjektiven in­­telligenten Handlungen andererseits distanziert der Vf. sich von jedem Biologismus, der das Gehirn zum einzigen Subjekt geistiger Handlungen macht, aber zugleich auch von einem sozialen Determinismus, der die individuellen Subjekte zu kritik- und willenlosen Rädern der sozialen Maschine verkehrt.
Der Vf. unterscheidet dabei den Geist als Verstand und den Geist als Vernunft. »Der Geist als Verstand ist […] das Vermögen, die Normen, Schemata und Regeln des Richtigen im einzelnen Tun zu befolgen« (41), und das setzt praktische Erkenntnis voraus. Die Vernunft dagegen »ist […] die weitere, methodisch spätere, Kompetenz, auf die Normen des Verstandes explizit zu reflektieren und an der Meta-Praxis der gemeinsamen Entwicklung von Schemata und Regeln für den Verstand teilzunehmen« (42). In praktischer Hinsicht betrifft die Logik des Verstandes »die Norm- und Regelbefolgung. Die Logik der Vernunft [dagegen] ist die Dialektik der freien allgemeinen Aufhebung von Widersprüchen und Problemen« (55). Grosso modo könnte man also sagen der Verstand betreffe die Regelbefolgung, die Vernunft die autonome Regelsetzung (ebd.). Der Unterschied zwischen Verstand und Vernunft ist, so argumentiert der Vf., auch der Grund des Unterschieds zwischen empirischen Geisteswissenschaften (Produkte des Verstandes) und der Vernunftarbeit der Philosophie. Einerseits »geht es um die (Bildung des Verstandes zur) Fähigkeit, personale Rollen richtig zu spielen« (68); andererseits geht es »um die kompetente Teilnahme an einer immer nur als gemeinsame zu begreifende Entwicklung unserer Praxisformen in einer gemeinsamen Kultur der Vernunft« (ebd.). Mit seinem Kommentar der Phänomenologie des Geistes scheint der Vf. sich vor allem den Aufweis des eigenen Rechts der (spekulativen) Philosophie als vernünftige Entwicklung von Praxisformen zum Ziel gesetzt zu haben.
Auch der absolute Geist wird entmystifiziert. Er ist nichts weniger, aber auch nichts mehr als das gemeinsame Wir. »Er ist der Geist, der wir sind. Dieser Geist bildet eine Art Hintergrundrahmen, gerade wenn wir etwas handelnd und dabei immer schon in der einen oder anderen Weise kooperativ ausführen. Der absolute Geist ist also das generisch-kollektive Subjekt aller menschlichen Praxisformen. Er ist eine Art diffus-generisches Subjekt von Vollzugsformen im kollektiven Handeln. An ihm nehmen wir im selbstbewussten Begreifen als einer Form des tätigen Anerkennens gemeinsam verfügbarer Vollzugsformen teil, so wie wir in einem einfachsten Fall an einem Paartanz oder Rollenspiel teilnehmen oder dann auch an viel größeren Projekten wie einem nationalen Aufbruch« (57). Der Hinweis auf Paartanzen und Rollenspiele ist ein typisches Beispiel der Strategie des Vf.s, Hegels Denken dem Alltagsleben des Lesers näherzu bringen. Das Wort »absolut« soll seiner mystisch-theologischen Konnotation entledigt werden und darf nur »im Kontrast zum Relationalen einer Bezugsform oder Aussage« (58) verstanden werden. Mit anderen Worten: »das Absolute sind wir [meine Kursivierung] im Vollzug des Lebens selbst« (ebd.). In der besonderen Vollzugsform der Philosophie, im Nach-Denken über alle Vollzugs- und Bezugsformen (wie wir diese z. B. im objektiven Geist zurückfinden) wird dies begrifflich expliziert. »Der absolute Geist also«, so wiederholt der Vf., »sind wir selbst, aber nicht als bloße Ansammlung oder Menge von Einzelpersonen, als bloßes distributives Kollektiv, sondern als eine Gemeinschaft, in welcher die Formen der Vernunft […] zu einer einheitlichen Menschheit verbunden sind« (58). Diese Gemeinschaftlichkeit des Menschlichen wird in der Religion, der Kunst – der Vf. scheint, (post)modern und eher unhegelisch, die hierarchische Ordnung von Kunst, die für Hegel eigentlich doch Kunstreligion ist, und Religion umzukehren – und der Philosophie mehr als nur Gegenstand des Wissens, sie wird in diesen Formen auch zum Ausdruck gebracht. Sie sind, so sagt der Vf., »expressiv zu feiernde Form[en] gemeinsamen Lebens« (58). Das Wir der Gemeinschaft aller Menschen bedarf ja »der expressiven Selbstvergewisserung« (ebd.), und Religion, Kunst, und Philosophie sind die drei »Vollzugsformen, in denen wir uns selbst in unserer Teilhabe an Praxisformen und Institutionen aktiv und anerkennend begreifen« (ebd.).
Obwohl der Vf. sich gern des Vokabulars der heutigen Handlungstheorie und der analytischen Philosophie bedient, bedeutet dies nicht, dass er mit dem Empirismus der manchmal analytisch inspirierten philosophischen Psychologie oder Epistemologie einverstanden wäre. Im Gegenteil, in Hegel findet er ein überzeugendes Arsenal an Argumenten gegen einen allzu populären, platten Empirismus. Gerade deshalb macht er seine Explikation des Hegel’schen Unterschieds zwischen Verstand und Vernunft zur Hauptthese seines Kommentars. Nicht immer und nicht jeden Leser werden die umfänglichen Ausführungen des Vf.s zur Phänomenologie befriedigen, aber auf manchen werden seine Interpretationen erfrischend wirken; und vielleicht wird er analytisch inspirierte Denker dazu bewegen, Hegels Philosophie auch heute noch ernst zu nehmen.