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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

385-388

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Nooke, Christoph T.

Titel/Untertitel:

Gottlieb Jakob Planck (1751–1833). Grundfragen protestantischer Theologie um 1800.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XVII, 513 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 170. Lw. EUR 109,00. ISBN 978-3-16-152266-6.

Rezensent:

Thomas Kaufmann

Die bei Albrecht Beutel entstandene Münsteraner Dissertation ist dem Leben und Werk des Göttinger Kirchenhistorikers und Theologen Gottlieb Jakob Planck (1751–1833) gewidmet. Plancks langes Leben umspannte die Durchsetzung, Etablierung und die persis­tenten Wirkungen des komplexen geistes- und kulturgeschicht-lichen Prozesses der Aufklärung. Das biographische Interesse, dem Christoph T. Nooke – anknüpfend an die frühe Arbeit von Plancks Schüler Lücke – auf der Basis äußerst gründlicher archivalischer Recherchen breiten Raum gibt, bringt eine in mancher Hinsicht exemplarische Gelehrtenexistenz »um 1800« zur Darstellung. Ne­ben der Biographie des geborenen Schwaben, der seit 1784 für ein knappes halbes Jahrhundert an der damals führenden »Aufklärungsuniversität« Göttingen wirkte und aller Würdigungen, derer das Königreich Hannover fähig war, teilhaftig wurde, arbeitet N. das Profil der zeitgenössischen protestantischen Theologie, wie Planck sie vertrat und repräsentierte, heraus.
Der Sohn eines Nürtinger Stadtschreibers wuchs in die pietis­tisch geprägte Kirchlichkeit Württembergs hinein; über die noch vom Geist des Humanismus und der Orthodoxie geprägten Klos­terschulen in Blaubeuren und Bebenhausen führte ihn der cursus honorum ins Theologische Stift Tübingen. Weit über das unmittelbar für die Biographie Plancks hinaus Einschlägige erschließt N. die jeweiligen Lebensstationen seines Protagonisten liebevoll und sorgfältig. Auf diese Weise entsteht ein durchaus buntes Bild der Zustände an der Universität Tübingen und der Ausbildungsstrukturen sowie der theologischen und religiösen Richtungen im Stift. In Plancks Tübinger Studienzeit wurde eine einst durch Pfaff in­augurierte, gegenüber der Orthodoxie verpflichtete, gegenüber dem Pietismus offene und moderate, ›aufklärerische‹ Tendenzen aufnehmende, unionsaffine Theologie nun durch dessen Nachfolger Reuß, der sich auf biblizistischen Supranaturalismus zubewegte, repräsentiert. In der Philosophischen Fakultät wurde Planck mit Wolff, Leibniz, Locke und Descartes vertraut, erhielt auch Anregungen für eine pragmatische Geschichtsbetrachtung und echauffierte sich in einem Huldigungspoem auf den regierenden Herzog Karl Eugen. Im Anschluss an Lücke schreibt N. Planck einen anonymen Traktat zur Erkenntnis menschlicher Neigungen zu – »ein Zeugnis eines frühen psychologischen Interesses Plancks« (51). Allerdings überzeugt die interpretative Einbindung des recht umfänglichen Textes in die nur umrisshaft rekonstruierten Studienverhältnisse Plancks nur bedingt. Aufschlussreicher ist Plancks Dissertation zu Fragen der biblischen Hermeneutik; gegen Teller votierte er für eine Auslegungsmethode, die nicht bloß Schrift aus Schrift erschloss. Unter den im Stift geschlossenen Freundschaften war die zu Spittler, der ihn schließlich nach Göttingen zog, von besonderer und nachhaltiger Bedeutung.
Eher en passant handelt N. Plancks Betätigung als Romancier ab; auch wenn man die literarische Qualität des Liebes- und Erziehungsstücks nicht überschätzen wird, ist dieses Engagement doch – auch für das zeitspezifische Profil dieses gelehrten Theologen – sehr aufschlussreich. Aus Plancks Zeit als Professor und Prediger an der in Konkurrenz zur Universität Tübingen gegründeten Stuttgarter Karlsschule ist vor allem seine Predigttätigkeit in Ansätzen rekonstruierbar. Die politische Welt des Kurfürstentums Hannover im 17. bis 19. Jh., in die Planck eintrat, stellt N. besonders ausführlich dar. Als spezifisch kann gelten, dass in diesen Breiten ein kritischer Umgang mit der lutherischen Bekenntnistradition und eine Tendenz zum Unionismus (Calixt; Leibniz; Molanus; Jeru-salem) in unterschiedlichen Formen seit dem späten 16. Jh. im Schwange war.
Die im Kontext eines Buches über Planck etwas weitläufig ausgefallene Darstellung der Gründung der Universität Göttingen hat in den die Wissenschaftsentwicklung der Aufklärung befördernden Freiheiten (relative Zensur-, Forschungs- und Lehrfreiheit) und dem hier praktizierten akademischen Leistungsethos der in­teragierenden Institutionen (Königliche Gesellschaft; Bibliothek; Gelehrte Anzeigen) ihren eigentlichen Skopos. Zu Recht stellt N. heraus, dass erst gegen Ende des 18. Jh.s die unionistischen Tendenzen in der theologischen Fakultät auf dem Vormarsch waren. Hinsichtlich des spezifischen historischen Profils der Göttinger Theologie betont N. die Bedeutung von Plancks Vorgängern Mosheim und C. W. Walch. Plancks milder, neologisch-rationaler Su­pranaturalismus, der einen Anschluss an die neueren religiös-theologischen Entwicklungen (Schleiermacher; Erweckung) verweigerte, sollte das theologische Klima in Göttingen bis in die Mitte des 19. Jh.s, also über seinen Tod hinaus, prägen. Sein wichtigstes Werk, die »Geschichte unseres protestantischen Lehrbegriffs« (seit 1781), hatte auch seine Berufung nach Göttingen veranlasst.
Rasch stieg er hier zum Primarius auf; der fleißige Mann, der sich auch der Übernahme diverser Ämter nicht verweigerte (Ephorat; Kuratorium des Waisenhauses; Konsistorialrat; Generalsuperintendent), erfreute sich an der ›Arbeitsuniversität‹ der lebhaftes­ten Wertschätzung. In Auseinandersetzungen mit der Philosophischen Fakultät, in denen es im Kern um den Gegenstandsbereich der Theologie ging, agierte Planck moderat, aber im Interesse der fachlichen Zuständigkeit seiner Fakultät. In der ›Franzosenzeit‹ ko­operierte Planck im Rahmen dessen, was ihm um des Erhalts der evangelischen Kirche unablässig schien. In seiner Reformationsdeutung betonte Planck die Wirkungen auf Wissenschaft, freie Geis­-tigkeit, Gesellschaft und Staat und die Befreiung im Verständnis der Religion; aus der Komplexität ihrer Wirkungen ergab sich für den pragmatischen Kirchenhistoriker, dass die Reformation von Gott selbst heraufgeführt worden sein müsse. In Bezug auf Plancks biedermeierlich-private Verhältnisse und seine politischen Auffassungen hat N. bemerkenswert viel Material zusammengetragen. Aufgrund der beigebrachten Zeugnisse einzelner Schüler Plancks entsteht der Eindruck, dass die Positionen, für die er stand, bereits von seinen Zeitgenossen als veraltet wahrgenommen wurden.
Die Grundfragen protestantischer Theologie um 1800, die N. im zweiten Teil seiner Studie anhand von Plancks literarischem Werk erörtert, umfassen die theologische Enzyklopädie, die hinsichtlich ihrer Genese und ihrer Bedeutung erschlossen wird, ohne freilich die orthodoxen Wurzeln derselben eingehender darzustellen, die Kirchen- und Dogmengeschichtsschreibung, die lehrsystemvergleichende Symbolik sowie Fragen der Kirchen- und Staatsbeziehungen, insbesondere der innerprotestantischen Union. Zu all diesen Themenfeldern hat Planck maßgebliche Schriften vorgelegt.
Als Gegenstand der Theologie fasste Planck die geoffenbarten Wahrheiten der christlichen Religion auf; wegweisend wurde Plancks ›unparteiliche‹, auf Gelehrsamkeit abzielende, offene, nicht für eine bestimmte Schulrichtung werbende Konzeption der theologischen Enzyklopädie. Theologie als Wissenschaft der Religion, welche Christus eingeführt und den Menschen mitgeteilt hat, ist nach Planck substanziell historisch orientiert. Im Kontext der supranaturalistisch ausgerichteten Apologetik, die sich den Herausforderungen der Kant’schen Transzendentalphilosophie entzog, wollte Planck die Göttlichkeit des Christentums auf histo-rischem Wege beweisen. Gegenüber Kants Religionsphilosophie insistierte Planck auf der Bedeutung der präzisen Offenbarungsinhalte der statutarischen Religion, derer die moralische Religion nicht entbehren könne. In Bezug auf den Umgang mit divergierenden christlichen Bekenntnisbildungen verdienen Plancks Im­pulse zu­gunsten einer historisch fundierten komparatistischen Symbolik Beachtung. Überhaupt verstand er die Theologie im Kern als historische Wissenschaft.
In seinem Hauptwerk, der »Geschichte unseres protestantischen Lehrbegriffs«, der ersten Dogmengeschichte des Protestantismus (1781–1800), wird Plancks Fachverständnis besonders deutlich. Gegenüber der älteren Reformationshistoriographie konzentrierte er sich zum einen auf die Lehrbildung, erweiterte er zum anderen die Quellenperspektive, indem er Briefe und andere, auch politische Dokumente breit einbezog, dadurch in methodisch innovativer Weise biographisch-psychologische Zugänge zu den Akteuren und ihrem Selbstverständnis gewann und – ungeachtet seines lutherischen Bekenntnisses – differenzierte theologische und moralische Urteile etwa zum Abendmahlsstreit, der »unse-ligste[n] aller Streitigkeiten« (297), vortrug. Eine historisch zäsurierende Bedeutung des Augsburger Religionsfriedens, die seit Ranke kanonisch wurde, vertrat schon Planck. Die politischen Handlungsträger erfuhren in seiner Darstellung in der Regel eine positivere Bewertung als die streitbaren Theologen; auch der Konkordienformel konnte der Landsmann Jakob Andreaes keine besondere Bedeutung abgewinnen. Plancks historiographische Sensibilität gegenüber institutionellen und Rechtsfragen kommt vor allem in der »Geschichte der christlichen Gesellschaft-Verfassung« zum Ausdruck.
Kind der Aufklärung blieb Planck darin, dass er die gesamte Geschichte unter der Perspektive der Besserung der Menschheit und ihrer Befreiung von Irrtum und Sünde, dem eigentlichen Plan Jesu, sah. Die Entwicklungsgeschichte des Christentums, das in der Reformation quasi eine neue Stufe erreicht habe, erschien ihm als providentiell, d. h. als Realisierung dieses Plans; sie bewies die Göttlichkeit der Stiftung des Christentums. Die optimistische Sicht seiner eigenen Zeit ergab sich für Planck vor allem aus den Fortschritten der historisch-kritischen Wissenschaft, der Befreiung von dem Diktat des symbolischen Dogmatismus und der Verbreitung toleranter und freiheitlicher Auffassungen. Planck sah die Wurzeln dieser Umformungsgeschichte des Christentums in der Reformation, ihre Verwirklichung aber in der Zukunft. Die programmatische Geschichtsschreibung wurde von Planck durch eine psychologisierende Sicht auf den ganz ins Zentrum gerückten Menschen erweitert; in der zur Königsdisziplin avancierenden Dogmengeschichte sah er die Möglichkeit der Kritik; auch die Unterscheidung von Theologie und Religion eröffnete Möglichkeiten der Abwehr dogmatischer Geltungsansprüche. Die vor allem in der Deutung der Reformation zur Wirkung gelangte Historisierung im Denken Plancks, die eine kritische Aneignung differenziert beurteilter Traditionsbestände im Horizont theologischer Gegenwartsverantwortung ermöglichte, kann als sein wichtigster Beitrag zur Theologiegeschichte gelten. Die konzise Rekonstruktion des Reformationsverständnisses bildet den darstellerischen Höhepunkt dieser Dissertation.
In zwei je knapperen Folgekapiteln stellt N. Plancks Beiträge zur vergleichenden Konfessionskunde und seine kirchenpolitischen, unionistischer Vereinigungspolitik gegenüber besonnen-skeptischen, gleichwohl auf Annäherung abzielenden Ideen vor. Der Fortbestand unterschiedlicher Konfessionen war für Planck mit der Einlösung des Ziels des Christentums, die Menschheit zu bessern und zu beglücken, mühelos vereinbar. Anhand von sechs Ka-tegorien (Religion und Offenbarung, Theologie, Geschichte, Be­kenntnis, Kirche, Mensch) fasst N. Plancks wissenschaftliche Weltsicht abschließend zusammen. Insbesondere dieses Summarium führt in eindrucksvoller Weise vor Augen, dass der so ungemein stetige, unprätentiöse, verlässlich Orientierung bietende, tolerante, allem Schillernden und Unausgegorenen gegenüber abholde Planck in dieser ausgezeichneten Dissertation seinen kongenialen Interpreten gefunden hat.