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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

369-370

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Voigt, Karl Heinz

Titel/Untertitel:

Der Zeit voraus. Die Gemeinschaftsbewegung als Schritt in die Moderne? Erwägungen zur Vorgeschichte und Frühgeschichte des Gnadauer Gemeinschaftsverbands.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 204 S. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-374-03748-3.

Rezensent:

Volker Spangenberg

Man geht wohl nicht fehl, wenn man in der vorliegenden Untersuchung von Karl Heinz Voigt die eindrückliche Zusammenschau seiner bereits durch zahlreiche historische Studien belegten Auseinandersetzung mit der Gnadauer Gemeinschaftsbewegung sieht. Der von Hartmut Lehmann im Vorwort als der »beste Kenner der Geschichte der Freikirchen in Deutschland im 19. Jahrhundert« (6) bezeichnete methodistische Historiker führt mit seiner Untersuchung auf vielfältige Weise in eine bedeutsame Phase der Ge­schichte des deutschen Protestantismus ein. Besonders hilfreich sind dabei gerade für den mit der Thematik weniger vertrauten Leser die durchgängigen, das Verständnis der Zusammenhänge erleichternden Erläuterungen zu historischen Ereignissen, Gruppierungen und Personen in den Anmerkungen.
Das Buch ist formal in zwei Teile gegliedert, die inhaltlich allerdings nicht streng voneinander unterschieden sind. Dadurch kommt es zu Wiederholungen, deren sich V. zwar bewusst ist (vgl. Anm. 168), die die Lektüre jedoch mitunter etwas mühsam machen.
Der erste Teil geht von der zeitgenössischen Interpretation aus (bes. von Paul Fleisch), dass die mit der Gnadauer Pfingstkonferenz von 1888 sich fortschreitend organisierende Gemeinschaftsbewegung »wenigstens in zentralen Fragen als Teilergebnis methodistischer Impulse« (34) anzusehen sei. Dies musste nach V. auf dem Hintergrund der damaligen Beurteilung der methodistischen Kirchen und des Verdachts, eine »heimlich aus dem Ausland unterwanderte fremde Bewegung« (48) zu sein, von den Gnadauern als hinderlicher Makel für die angestrebte Evangelisierung Deutschlands begriffen werden. Von ihm versuchte man sich daher durch eine Reihe von Trennungsmaßnahmen (z. B. von der gemeinsamen Blaukreuzarbeit oder der Chorarbeit des Christlichen Sängerbundes) zu befreien und so dem völkischen Vorwurf der »Engländerei« und dem der sektiererischen Separation von der eigenen Kirche entgegenzuwirken. Im zweiten Abschnitt des ersten Teils wird an einer Reihe von Praxisfeldern gezeigt, wie die anfängliche Gemeinschaftsarbeit nach Ansicht von V. »auf lange Sicht für die landeskirchliche Gemeindearbeit modellhafte Vorarbeit« (50) geleistet hat. Diese reicht von der Bildung einer freien kirchlichen Organisation mit überregionalen Gemeinschaften, undenominationeller Offenheit, Laiendienst, persönlicher Glaubenserfahrung und dem Streben nach einem geheiligten Leben über evangelistisch-missionarische Ansätze mit Massenveranstaltungen und einem vitalen »Gemeindeleben« bis zu internationalen Kontakten. Als Fazit dieses ersten Teils lässt sich festhalten, was als These der gesamten Untersuchung gelten darf, nach V. jedoch erst »in der Rückschau« klar zu erkennen und zu bewerten ist: »Dass die Gemeinschaftsbewegung in weit stärkerem Maße als andere landeskirchliche Zweige am Aufbruch in die Moderne teilgenommen hat und sie im Grunde ihrer Zeit voraus war« (48 f.); dass viele der dort anzutreffenden Innovationen »durch die Vermittlung aus der angelsächsischen Erweckung fast unbemerkt aufgenommen worden sind« (83), aber aus Gründen der Abgrenzung in ihrer Progressivität von der Bewegung nicht öffentlich formuliert und propagiert werden konnten, und dass somit die bislang meist als (bruchlose) Traditionskette gezeichnete Entwicklungslinie vom Pietismus über die Erweckungsbewegung zur Gemeinschaftsbewegung und damit auch die (Selbst-)Bezeichnung »Neupietismus« für die Gnadauer differenzierter gesehen werden muss.
Dies eingehend zu beleuchten und »die personalen, theologischen, strukturellen Linien, die zu den Gemeinschaften führen und sie in ihrem Ursprung geprägt haben, kritisch zu überprüfen und vor allem das Spektrum der Wahrnehmung in den internationalen Bereich hinein zu erweitern« (78), ist Gegenstand des zweiten Teils der Untersuchung, der zeigen soll, »zu welchen Konsequenzen in der historischen Verortung ein verändertes Selbstverständnis der Ge­meinschaftsbewegung führen kann« (83). Hier finden sich nach einer Auseinandersetzung mit den Begriffen »Neupietismus« und »Methodismus« zahlreiche, auf intensive archivalische Forschungsarbeit gestützte Einzelkapitel zur fundamentalen Bedeutung »der übernationalen Wirkungen der Erweckungsbewegungen aus dem angelsächsischen Raum« (84) für die Anfänge der Bewegung. Die Studien analysieren zeitgenössische Einschätzungen zum Verhältnis von Methodismus und Gemeinschaftsbewegung, dokumentieren den (methodistischen) Einfluss von markanten Persönlichkeiten (Robert Pearsall Smith, Friedrich von Schlümbach und besonders Theodor Christlieb), die Bedeutung des Deutschen Evangelisationsvereins und die Distanzierung der Gnadauer »von ihren angelsächsischen Impulsen« (134), geben aber auch Auskunft über Einflüsse der Erweckung von 1904/05 in Wales, die Beurteilungen durch die offiziellen kirchenleitenden Gremien, das Verhältnis zur Herrnhuter Brüdergemeine und den »Transfer aus den methodistischen Kirchen zurück in die Gemeinschaften« (151).
Es ist insbesondere die reiche Fülle des zusammengetragenen Materials, die diese Untersuchung auszeichnet. Sie trägt denn auch über einige Schwächen des Aufbaus und die unverkennbare Tendenz hinweg, die eigentlich innovative Kraft beim »Schritt in die Moderne« (162) für das Freikirchentum und hier insbesondere für den Methodismus zu reklamieren. Für die gegenwärtige Diskussion des Selbstverständnisses des Gnadauer Gemeinschaftsverbands, der deutschen Landes- und Freikirchen, aber auch für die weitere Erforschung der »Linien vom Pietismus und den Erweckungsbewegungen in die Gemeinschaftsbewegung hinein« (164) stellt das Buch eine herausfordernde Grundlage dar.