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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

367-369

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Railton, Nicholas M.

Titel/Untertitel:

Pietismus und Revolution. Der badische Pfarrer Jakob Theodor Plitt (1815–1886) und seine Beziehung nach England (m. engl. Version v. Vorwort u. Einführung). Hrsg. v. G. Schwinge.

Verlag:

Heidelberg u. a.: Verlag Regionalkultur 2012. 143 S. m. Abb. = Sonderveröffentlichungen des Vereins für Kirchengeschichte in der Evangelischen Landeskirche in Baden, 8. Geb. EUR 16,90. ISBN 978-3-89735-730-3.

Rezensent:

Klaus vom Orde

»In der Literatur zur Revolution in Baden 1848/49 ist Theodor Plitt fast gänzlich übersehen worden.« (82) Dieser »Übersehene« schrieb ein persönliches Tagebuch in der Zeit von Mai bis August 1849, also auf dem Höhepunkt der badischen Revolution, das hier zum ersten Mal ediert wurde. Vorgesetzt ist dieser Edition ein biographischer Abriss von Nicholas M. Railton, der bis auf kleine biographische Skizzen und Erwähnungen im Kontext der Geschichte der »Evangelischen Allianz« und der badischen Kirchengeschichte des 19. Jh.s kaum Erwähnung findet.
Plitt, geb. am 4. April 1815 in der Herrnhuter Kolonie Königsfeld (Schwarzwald), gest. am 27. Mai 1886 in Dossenheim bei Heidelberg, erhielt seine Schuldbildung in Herrnhuter Anstalten in Neudietendorf und Nieski, besuchte danach das theologische Seminar der Herrnhuter in Gnadenfeld, bevor er an der Berliner Universität Theologie studierte. Nach einer Episode als Lehrer am Herrnhuter Erziehungsinstitut in Neuwied wechselte er in die badische Landeskirche, in deren Diensten er – mit Unterbrechungen als Pfarrer (1850–1852) und Professor in Bonn (1860–1867) – als Geistlicher an ver­schiedenen Orten mit verschiedenen Aufgaben stand, u. a. als Lehrer am Predigerseminar und ao. Professor für Praktische Theologie in Heidelberg. Die hier vorgelegte biographische Skizze konzentriert sich im Wesentlichen auf zwei Themenbereiche: seine Haltung in der Zeit der badischen Revolution und seine internationale und interdenominationelle (ökumenische) Aktivität im Rahmen der »Evangelischen Allianz«.
Die Tätigkeit in der sich zu seiner Zeit gerade konstituierenden Evangelischen Allianz ist spannend, aber die Darstellung ist durchaus auch spannungsvoll. Sie zeigt darin Plitt als eine Person, in der sich die Problematik der »Erweckten« in der Mitte des 19. Jh.s beispielhaft verdichtet. Einerseits liegt es in der Natur dieser erwecklichen Gruppierung, über die Konfessionsgrenzen hinaus zu denken und zu agieren. Andererseits wird bei Plitt greifbar, wie die – häufig durchaus aus der Erweckungsbewegung erwachsenen – konfessionalistischen Lutheraner, die mit ihrem politischen Konservativismus (auch theologischen Antiliberalismus) Mitstreiter der »Erweckten« waren, sich dann ebenso streitbar gegen alle Be­strebungen wandten, die für sie international und interdenominationell erschienen.
Betrachtet man den Theologen Jakob Theodor Plitt in seiner Beurteilung der badischen Revolution, entspricht er dem mehrheitlichen Bild der damaligen konservativen Geistlichen und Laien, die die Revolution als Ausfluss der (antichristlichen) französischen Revolution (38.51) verstanden und für die der Unglaube die Hauptwurzel des Aufstands bedeutete (47). Falsche Propheten (47) haben sich an die Spitze der Bewegung gesetzt, die die Republik, die für ihn »Teufelswerk« war (53), gegen den badischen Großherzog als christlichen Fürsten von Gottes Gnaden (46) und »Gesalbten des Herrn« (53) aufhetzte. Demokraten waren für ihn Taugenichtse, Vagabunden, Diebe, eine Räuberbande, Horde usw. (54). Eine Parallele zu den Ereignissen seiner Zeit findet er in der biblischen Erzählung des Aufstandes Absaloms gegen seinen Vater David (52). In einer gewissen Spannung dazu steht dann jedoch die Deutung der Revolution als ein Gericht (60) oder besser eines Bußrufs Gottes an das gottlos gewordene Volk (48.50), an deren Ende die Erlösung durch die preußische Besetzung des Landes steht (56). An diesem Dilemma haben vor allem die Theologen – und hier insbesondere diejenigen an den Universitäten – Schuld (61). Die »fehlende Orthodoxie« (50) bewirke den Unglauben zunächst unter den höheren Ständen, an denen sich das gemeine Volk sein schlechtes Vorbild nehme (60). Liberale religiöse Ansichten und liberale Vorstellungen in der Politik gehen nach Plitt Hand in Hand (45). Dies alles entspricht in den Grundzügen den Wortführern der Erweckten in Baden (vgl. Aloys Henhöfer, Baden und seine Revolution [1849]).
Als Kontrapunkt dazu wird Plitt als ein »Vorkämpfer für religiöse Freiheit« beschrieben (66–75). Wie sehr dies auch eine politische Komponente hat, zeigt der Widerstand konfessioneller lutherischer Theologen wie etwa Theodor Kliefoths, der die Evangelische Allianz als »Medium der Revolutionierung der kirchlich-staat-lichen Ordnung« (67) verstanden wissen wollte, oder der »Evange-lische[n] Kirchenzeitschrift« unter der Federführung E. W. Hengs­tenbergs, die den Liberalismus als Triebkraft der Allianzarbeit zu erkennen glaubte (68).
Hinzuweisen ist schließlich noch auf die seelsorgerlichen Besuche bei dem Theologen und Gefangenen aus der badischen Revolution Gottfried Kinkel (1815–1882). Einerseits wird aus Plitts Aufzeichnungen deutlich, dass sein Anliegen und der theologische Ansatz Kinkels (»Jesus als Urdemokrat«, 58) so wenig kompatibel wa­ren, dass seine Bekehrungsversuche zwangsläufig scheitern mussten, andererseits wurde Plitt von dem Gefangenen und seiner Frau – »obgleich Pietist« (58) – im Verhältnis zu anderen als liebenswürdig (58) und zugewandt gelobt.
Das Büchlein ist als Detailstudie zu der Zeit der ausklingenden Erweckungsbewegung zu verstehen. Vor allem der Quellentext ist ein Beleg dafür, wie die Erweckten sich in den Herausforderungen ihrer Gesellschaft und Kirche verhielten. Die skizzierte Spannung zwischen – politischem und theologischem – Konservativismus einerseits und Interkonfessionalismus und dadurch entstehendem kirchenpolitischen Drang zur Freiheit andererseits lässt sich hier am konkreten Beispiel sehr deutlich erkennen. Hierin liegt der Wert des Buches neben der Tatsache, die Person Plitts der Vergessenheit zu entreißen. Vom Haupttitel »Pietismus und Revolution« ist – ungeachtet der problematischen Anwendung des Begriffs »Pietismus« auf die späte Erweckungsbewegung, der freilich in der Quelle selbst verwendet wird – nicht auf eine grundsätzlichere Be­handlung des Themas zu schließen.