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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

365-367

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Handschuh, Christian

Titel/Untertitel:

Die wahre Aufklärung durch Jesum Christum. Religiöse Welt- und Gegenwartskonstruktion in der Katholischen Spätaufklärung.

Verlag:

Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2014. 262 S. = Contubernium, 81. Geb. EUR 52,00. ISBN 978-3-515-10604-7.

Rezensent:

Florian Bock

Hat es sie gegeben? Nach wie vor ist die (kirchen-)historische Forschung, was die Katholische Aufklärung betrifft, uneins: Während die einen in Abrede stellen, dass es so etwas wie eine spezifisch ka­tholische Ausprägung der Aufklärung überhaupt gegeben hat – zu nennen wären hier etwa Albrecht Beutel und Angela Borgstedt–, ja gar von einer Illusion sprechen (Harm Klueting), haben vor allem neuere Arbeiten gezeigt, dass ein Amalgam von Aufklärung und Katholizismus für die Menschen des 18. und 19. Jh.s kein Widerspruch war.
Letzterer Zweig der Forschung, auf den hier fokussiert werden soll, lebte bis dato jedoch vor allem von wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten, die katholische Pastoralpraktiken in den Blick nahmen und nach einzelnen Praxisfeldern ausdifferenzierten wie etwa Sakramente und Liturgie, Wallfahrten, Armenfürsorge sowie neuerdings auch Bibellektüre. Noch Unklarheit herrschte aber über das große Ganze – gemeint ist eine vollständig aufgeklärt-katholische Lebensgestaltung und ihre Konsequenzen für den Alltag. In diese Lücke stößt die Tübinger Dissertation von Christian Handschuh, die Gegenstand der vorliegenden Rezension ist. H., der als Assistent am Kölner Lehrstuhl für Kirchengeschichte arbeitet, hat es sich zum Ziel gesetzt, die Alltagswelt katholischer Priester im Württemberg der Spätaufklärung in systematischer Zusammenschau zu analysieren. Das Tun jener Priester identifiziert H. als im eigentlichen Sinne Volksaufklärung: Klerikale Eliten intendierten die Popularisierung der imitatio Christi als lebenslange Selbsterziehung für die Masse. Demnach möchte H. auf umfassende Weise den von ihnen vorgenommenen Sinnstiftungen, Welt- und Geschichtsdeutungen sowie Menschenbildern auf die Spur kommen. Als Quellengrundlage diente H. dabei priesterliche (Pflicht-) Lektüre: Neben dem bereits durch andere Arbeiten bekannten, stark durch Wessenberg protegierten Archiv für Pastoralkonferenzen wurden die noch kaum in der Forschung wahrgenommene Linzer Monathsschrift sowie in den württembergischen Dekanatsbibliotheken lagerndes Material wie Katechismen und sonstige theologische Abhandlungen analysiert. Methodisch nähert sich die Studie diesem Material diskursanalytisch an. Jedoch gibt H. nicht der »klassischen« Lesart nach Foucault den Vorzug, sondern präferiert einen primär wissenssoziologischen Zugriff: Die katholische Spielart der Aufklärung wird als Spezialdiskurs so eingebettet in den sehr viel größeren Diskursrahmen »Aufklärung«, zu dessen vollständiger Formation z. B. auch die Kontrastposition der Gegenaufklärung zu zählen ist.
Die in anderen Arbeiten im Zentrum stehende seelsorgliche Sakramentenverwaltung (Kapitel 7) spielt für die Welt- und Sinnkonstruktion der Protagonisten eine Rolle, bleibt aber nur ein Feld unter vielen, wie die Gliederung der Arbeit zeigt: Auf die Einleitung folgt ein Kapitel, das sich mit dem Vernunftbegriff, der Anthropologie und Gotteserkenntnis als kognitivem Grundgerüst des aufgeklärten Katholizismus auseinandersetzt (Kapitel 2), das Verhältnis von Offenbarung und Geschichte (Kapitel 3) gerät nachfolgend ebenso in den Blick wie die Konzeption von Heilswegen (Kapitel 4), das Familienideal (Kapitel 5) sowie schließlich die Verbindung von Staat und Religion (Kapitel 6). In seinem Schlusskapitel resümiert H. über die religiöse Sinndeutung aufgeklärt-katholischer Priester vor allem als einen zirkulären Prozess: Ein aufgeklärtes, neues Heilsverständnis wurde in die Tradition der Erinnerungsgemeinschaft Katholizismus nach dem Prinzip eines »es war doch schon immer so« integriert (214).
Bleibendes Verdienst H.s ist es, mit seiner hier angezeigten Arbeit die in der bisherigen Forschung vielzitierte, aber ungenaue Definition der Aufklärungstheologie als einer »Verheutigung des Glaubens« mit dem Ziel einer erneuerten Kirche um einige erhebliche Gradzahlen geschärft zu haben. Viele, m. E. bekannte Einzelbeobachtungen werden hier durch das klug ausgewählte Quellenkorpus erstmals zusammengebunden und systematisiert. Doch wie im Wissenschaftsbetrieb nur allzu hinlänglich bekannt, gilt selbstverständlich auch angesichts dieser Untersuchung das Brechtsche Diktum »Vorhang zu und alle Fragen offen«. So hätte sich der Rezensent mehr Informationen über die sicherlich hinter den Kulissen vonstatten gegangenen Aushandlungsprozesse beider untersuchter Zeitschriften gewünscht: Welche Artikel erschienen, wer wählte aus etc.? Verbunden mit diesen Informationen wäre, wie an anderer Stelle bereits geschehen, schließlich auch die Frage zu stellen, ob es mögliche Brüche, Konflikte und Konkurrenzen unter den Protagonisten des Diskurses gegeben hat. Wie uniform generierte sich der württembergisch-aufgeklärte Klerus zu Beginn des 19. Jh.s?
Nach Meinung des Rezensenten tut eine weitere Erforschung des Phänomens der Katholischen Aufklärung vor allem aus zwei Stoßrichtungen not. Zum einen vom Anfang her gedacht: Wie konnte ein Gedankengut in die katholische Theologie des 18. Jh.s Eingang finden, das die Heilige Schrift und die Kirchenväter anstelle von Dogmatik und Kasuistik betonte und anstelle barocker Mess-Inszenierungen die Ablehnung einer solchen, nur den Aberglauben befördernden »Bezauberung der Welt« verfolgte? Mit an­deren Worten: Wie sich aus einem konfessionalisierten Frömmigkeitsstil ein aufgeklärter entwickeln konnte, ist noch weitgehend ungeklärt. Zum anderen vom Ende her gedacht. Um diese zweite, rezeptionelle Stoßrichtung weiß H. selber nur zu gut. So konstatiert er im Fazit, dass eine Analyse der »kulturelle[n] Hegemonie alternativer, bürgerlicher Katholizismen« (225) noch aussteht. Wie aber, so müsste dann gefragt werden, ist nur wenige Jahrzehnte später die Ausbildung des katholischen Milieus zu erklären, das in vielerlei Hinsicht einen radikalen Kontrast zum Programm der »wahren Aufklärung durch Jesum Christum« darstellt? Finden wir hier noch eine ausdrücklich erwünschte Allianz von Staat und Kirche bei einer gleichzeitigen »modernen« Verbürgerlichung der Pastoral vor, so lebt das ungleich langlebigere Milieukonzept von genau entgegengesetzten Konstanten: Dortige Modernisierungsprozesse betrafen den sozialen Kontext der Katholiken (Stichwort: katholisches Vereinswesen), die Pastoral erfuhr aber zu allergrößten Teilen eine strikt antimoderne Akzentuierung durch eine Orientierung ultra montes.
Um diese, aber auch andere Fragen zur sogenannten »Katholischen Aufklärung« beantworten zu können, wäre eine Vernetzung aller einschlägig zum Thema Forschenden etwa in Form eines round table höchst wünschenswert.