Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2016

Spalte:

362-363

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Lieu, Judith M.

Titel/Untertitel:

Marcion and the Making of a Heretic. God and Scripture in the Second Century.

Verlag:

Cambrigde u. a.: Cambridge Uni­versity Press 2015. IX, 502 S. Geb. £ 70,00. ISBN 978-1-107-02904-0.

Rezensent:

Katharina Greschat

Für Adolf von Harnack war Marcion schlichtweg einzigartig: Er war der erste Reformator, gleichsam ein moderner Gläubiger avant la lettre, auf jeden Fall der Erste, der so etwas wie einen Kanon christlicher Schriften konzipiert hat, weil er ein begnadeter Exeget und der Einzige in seiner Zeit war, der Paulus und seine Theologie wirklich verstanden hat. In all diesen verschiedenen Hinsichten hat sich Marcion – so Harnack – als prägende Gestalt für die weitere Gestaltung der christlichen Theologie und Kirche erwiesen. Harnacks Sicht auf Marcion hat die Forschung so sehr bestimmt, dass sich noch die jüngste Monographie zu Marcion (Sebastian Moll, The Arch-Heretic Marcion, 2010) in einer schlichten Umkehrung der Harnack’schen Thesen erschöpft, ohne jedoch das Niveau von dessen Quellenbeherrschung zu erreichen.
Erst der vorliegende Band vermag wirklich substantiell Neues zu bieten, weil Judith M. Lieu die äußerst schwierige Quellenlage souverän zu handhaben versteht und Marcion ganz konsequent in den Kontext der Debatten des 2. Jh.s einordnet. Darüber hinaus präsentiert sich ihr Buch wohltuend unaufgeregt, weil es steile und marktschreierische Thesen vollständig vermeidet. Zunächst einmal macht sie in einem ersten Teil (»The Polemical Making of Marcion the Heretic«, 13–180) Ernst damit, dass Marcion nur durch die Brille seiner jeweiligen Gegner erkennbar ist und dementsprechend jeder seiner Widersacher ein etwas anderes Bild von ihm zeichnet. Die Vfn. beginnt mit dem Marcionporträt des Justin, der für die Vfn. zugleich auch deshalb von großer Bedeutung ist, weil Justin ein ungefährer Zeitgenosse Marcions und wie dieser ein in Rom ansässiger christlicher Lehrer war. Es folgen die Sichtweisen des Irenaeus und natürlich die des Tertullian auf Marcion, wobei die Vfn. eine Reihe erstaunlicher Parallelen zwischen den beiden Kontrahenten herausarbeitet: »Tertullian’s Marcion emerges out of this complex of antithesis and attraction« (84). Anschließend geht sie der häresiologischen Tradition, wie sie sich bei Hippolyt, Epiphanius und dem Adamantiusdialog darstellt, genauer nach und macht einmal mehr deutlich, dass jeder Verfasser genau den Marcion vor Augen hat, den er für die Auseinandersetzungen in seiner eigenen Zeit brauchen kann. Das gilt natürlich auch für Clemens von Alexandrien und für Origenes, die mit ihrem Marcion theologisch-exegetische Debatten führen. Besondere Aufmerksamkeit schenkt die Vfn. den antimarcionitischen Disputen eines Ephraem oder Ezniks von Kolb, wobei sie dem Leserkreis, der sich nicht so häufig mit syrischen Autoren und den damit verbundenen Forschungsfragen beschäftigt, freundlicherweise diese gegenüber den westlichen Regionen doch ein wenig andere Welt etwas näher-bringt. Den Schlusspunkt setzt die Vfn. mit Theodoret von Cyrrhus.
Der zweite Teil (»Marcion through His Scriptures«, 181–289) nähert sich Marcion vom Zeugnis seiner Schriften her – in erster Linie sind hier natürlich Evangelium und Apostolikon gemeint! Allerdings kann die Vfn. in den Bezeugungen der Gegner keinerlei Hinweis darauf erkennen, dass Marcion beides als eine Art Neues Testament in Abgrenzung zum Alten Testament verstanden hätte: »such models are too precise and introduce fixed concepts that are anachronistic both for Marcion and for his opponents« (186). Damit ist aber auch klar, dass die Vfn. keine weitere Rekonstruktion des marcionitischen Textes der Paulusbriefsammlung oder des Evan geliums liefert, zumal um Letzteres zurzeit gerade ein heftiger Streit zwischen denen, die Marcions Evangelium für das erste Evangelium, und denen, die in ihm den Vorläufer des Lk sehen, tobt, während noch andere es für einen bearbeiteten Lk halten. Stattdessen konzentriert sich die Vfn. beim Evangelium auf einige zentrale Aspekte: auf den Titel, den Anfang, Tod und Auferstehung, Jesus, den Vater und Schöpfer, das Gesetz des Schöpfers und auf einige Schlüsselstellen, deren Auslegung zwischen Marcion und seinen Widersachern offensichtlich besonders umstritten waren. Ganz ähnlich verfährt sie mit dem Apostolikon und kann deshalb schlussfolgern: »he [s. c. Marcion] appears to be the first to draw from them not isolated proof-texts for theological debate or admonition, but a narrative both about Paul and about the revealer« (269). Vergleichsweise kurz kommen dann die Antithesen – von Harnack als vollständige marcionitische Dogmatik und zugleich Schriftkommentar gedeutet – zur Sprache, die die Vfn. als Sammlung zentraler exempla zu der gerade im 2. Jh. intensiv diskutierten Frage nach dem Wesen Gottes verstehen will.
Damit ist der Leser gedanklich schon im dritten Teil (»The Second-Century Shaping of Marcion«, 291–432), denn dort geht es tatsächlich um Marcions Befreiung von der ihm von Harnack beigelegten Sonderstellung. Stattdessen möchte die Vfn. die Kräfte benennen, die Marcions Ansichten geformt und bekämpft haben, wobei – wie bereits angedeutet – zunächst Justin den Rahmen ab­gibt, »that brings Marcion not just over against Justin but also alongside him, as the founder of a school« (322). Überzeugend ordnet die Vfn. anschließend Marcions Gottesvorstellung, seine De­batte um die problematischen Stellen in der Schrift auf dem Hintergrund dessen, ob diese als Quelle der Gotteserkenntnis taugt, Marcions Vorstellungen über die Figur des Erlösers und dessen Werk, die marcionitische Askese und Gemeinschaft in die Diskursgemeinschaft philosophisch-christlicher Schulhäupter des 2. Jh.s ein. Damit erscheinen schließlich auch die lange als Charakteristika marcionitischer Lehre angesehenen Punkte, wie die Betonung von Diskontinuitäten, die besondere Stellung, die Marcion dem Apostel Paulus einräumt, und die Berufung auf schriftliche Autoritäten, gleich als deutlich weniger außergewöhnlich. Werden sie ganz konsequent auf dem Horizont des 2. Jh.s gelesen, dann erübrigen sich eine ganze Reihe anachronistischer Vorstellungen, vor allem – und das betont die Vfn. noch einmal mit Nachdruck – auch diejenige, dass Marcion Urheber der Idee eines Kanons autoritativer Schriften in Abwehr anderer Schriften gewesen sei. Der Marcion, den die Vfn. uns hier präsentiert, entdeckte »a distinctive and even plausible solution to the fundamental challenge of the second century, namely of introducing the Christian message, rooted in the Scriptures and received tradition, to a new audience whose world view was shaped by the philosophical, and particularly by the popularized Platonic, tradition« (439). Möglicherweise hat dieser Marcion sein Wirken als apologetisch verstanden.
Umfangreiche Register runden das höchst wichtige und lang er­wartete Buch ab, das sicher zum neuen Standardwerk werden wird.