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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

318-320

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Binder, Matthias

Titel/Untertitel:

Asket und Eschaton. Das Endzeitbuch des Šuḥālmāran von Kirkuk.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2013. XIV, 493 S. m. 1. Abb. = Göttinger Orientforschungen. I. Reihe: Syriaca, 44. Geb. EUR 94,00. ISBN 978-3-447-10066-3.

Rezensent:

Lutz Greisiger

Das Buch widmet sich einer etwa 615 verfassten Schrift des ostsyrischen Mönchsbischofs Šuḥālmāran (zum Namen, »Ehre sei unserem Herrn«, s. 13, Anm. 20), Metropoliten von Karḵā ḏ-Ḇēṯ Slōḵ (Kirkuk) der mesopotamischen Kirchenprovinz Bēṯ Garmai nördlich der persischen Reichshauptstadt Seleukia-Ktesiphon. Die elf Kapitel des Texts bilden den sechsten und letzten Abschnitt des meist (irrtümlich) als »Buch der Teile (Kṯāā ḏa-mnawāṯā)« zitierten Werks, werden von Matthias Binder jedoch überzeugend als selbständiges Buch charakterisiert (154–183). Er kann für seine Arbeit auf David Lanes Edition und Übersetzung des Gesamtwerks zurückgreifen (Šubhalmaran, The Book of Gifts, CSCO, Bd. 612/13 = Scr. Syri, Bd. 236/237, Louvain 2004), auf die er durchgehend in den Anmerkungen verweist und sie, wo nötig, diskutiert und ggf. korrigiert. Den Abschluss des Buches bildet eine Neuübersetzung des Texts (430–561), die erstmals eine jüngst als zweiter Textzeuge identifizierte Handschrift vom St.-Katharinenkloster auf dem Sinai berücksichtigt. Auf diese eigene Übersetzung verweist er nur sporadisch, was die Orientierung recht mühselig macht, wo Lanes Ausgabe nicht zur Hand ist.
Was B. auf den übrigen reichlich 400 Seiten entfaltet, ist ein ausführlicher Kommentar zu Šuḥālmārans Buch.
Teil I widmet sich dem Gesamtwerk des Metropoliten und den biographischen und zeithistorischen Umständen, in denen er seine Endzeitpredigt verfasste (10–151). Seine Lebenszeit, von der Mitte des 6. Jh.s bis in die 630er Jahre, war vor allem in ihrem letzten Drittel von Krisenerscheinungen auf verschiedenen Ebenen ge­prägt: das Byzantinische und das sasanidische Perserreich fochten ihren letzten und für beide folgenschwersten Krieg aus (603–628); seine Kirche, die (»nestorianische«) Kirche des Ostens rang mit einer monophysitischen (»jakobitischen«, westsyrischen) Partei um die Gunst des Šāhs (Xusrō II., 591–628), ein Konflikt, der 612 in einer Religionsdisputation gipfelte (103–109.138 f.), aber unentschieden blieb; der Patriarchenstuhl von Seleukia-Ktesiphon blieb auf Ge­heiß des Monarchen für 19 Jahre vakant (80–82), usw. Šuḥālmā-ran nahm aktiv an den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen teil und bezahlte dafür zuletzt, wohl 613, mit lebenslangem Exil – in welchem auch das Endzeitbuch entstand.
Teil II (154–427) von B.s Buch bietet eine eingehende Analyse des Texts. Sein Hauptinteresse liegt bei »der geistesgeschichtlichen Einordnung der [in der Schrift vertretenen] theologischen Positionen und traditionsgeschichtlichen Motive« (4), die »textimmanent und im traditionsgeschichtlichen Vergleich« betrachtet werden (412), was im weitaus umfangreichsten Kapitel 8 (228–411) durchgeführt wird, das den Kern der Untersuchung ausmacht.
Hinsichtlich des intendierten Publikums bezeichnet B. die Schrift als »enzyklische Predigt«, der literarischen Gattung nach als »eine Homilie […], die eine eschatologische Skizze beinhaltet« (226 f.). In der Tat bietet der Text ein recht elaboriertes apokalyptisches Szenario – ohne jedoch nach den geltenden Kriterien eine Apokalypse zu sein (198–211, bes. 199 f.). »Apokalyptisierende Elemente« (321 u. ö.) findet B. lediglich in dem in den Text integrierten »›pseudoclementinischen‹ Fragment« (d. i. Kapitel V, 438–440; vgl. 163–176).
Auf den unter Šuḥālmārans Zeit- und Glaubensgenossen verbreiteten ›apokalyptischen Zeitgeist‹ weist B. gelegentlich hin und erkennt in seiner Schrift ein frühes Zeugnis desselben (146–150. 209.211). Sein literatur- und traditionsgeschichtlicher Ansatz lässt allerdings die Frage, welchen Beitrag sie zur Rekonstruktion ebendieses Zeitgeistes zu leisten vermöchte, in den Hintergrund treten. Die zahlreichen apokalyptischen Texte, die in den folgendem Jahrzehnten gerade im Nahen Osten entstanden, werden kaum herangezogen, um Motive in ihr zu erhellen (z. B. 209); Erklärungen aufgrund möglicher gemeinsamer mündlicher oder nicht erhaltener literarischer Quellen sind methodisch ausgeschlossen. Ebenso ist die skeptische Zurückhaltung Šuḥālmārans gegenüber einer allzu prononcierten Naherwartung vor allem insofern von Interesse, als sie verdeutlicht, wie er im Einzelnen »seiner ostsyrischen Schule verpflichtet ist« (ebd.). Der textimmanente Ansatz führt dazu, dass mögliche in seinem Publikum und/oder dessen Umwelt verbreitete Auffassungen kaum betrachtet werden, von denen er mit ebendieser betont konservativen Haltung Zeugnis ablegt. Schließlich bleiben auch Implikationen von Ideologemen, die Eigengesetzlichkeit von Denkschemata, außer Betracht, wo sie der Verfasser nicht ausgeführt hat.
Ein Beispiel zur Illustration: Ähnlich wie Theodor von Mopsuestia, Theodoret und Narsai identifiziert Šuḥālmāran den/das katechon von 2Thess 2, die Macht, die dem Kommen des Antichristen und dem Anbruch der letzten Tage noch ›im Weg steht‹, mit der »Vorsorge, Führung, Zügelung durch das göttliche Erbarmen« (II,2, 434) und nicht, wie sonst weithin üblich, mit dem Imperium Romanum (324 f.). Angesichts der politisch-militärischen Situation zur vermutlichen Abfassungszeit des Texts – 614 hatten die Truppen das Šāhs Jerusalem erobert und im Jahr darauf erstmals Konstantinopel selbst bedroht – hätte die letztere Exegese zu einer weit akuteren apokalyptischen Vision führen können als der Rückgriff auf die genannten Kirchenlehrer. Dann nämlich hätte alles danach ausgesehen, dass mit der existentiellen Bedrohung jenes Reiches ebendieses/r katechon im Begriff stand, ›aus dem Weg geräumt‹ zu werden – und zwar auf Betreiben der weltlichen Obrigkeit, unter der der Autor selbst lebte. Die traditionelle syrische Exegese kannte zwar die Deutung des vierten danielischen Reiches auf Rom, und damit dessen eschatologische Signifikanz zunächst nicht – was sich jedoch spätestens in den 630er Jahren änderte (vgl., etwas vage, 335). So kann durchaus bereits Šuḥālmārans Publikum die Vorstellung von Rom als dem vierten Reich bekannt gewesen sein und seine Deutung des katechon dazu gedient haben, der ›Endzeitstimmung‹ unter seinen Zuhörern und Lesern die Dringlichkeit und aktuell-politische Zuspitzung zu nehmen. Auch die sich unmittelbar anschließende Mahnung aus Mt 24,36, dass den Zeitpunkt des Endes »unser Herr allein weiß«, deutet in diese Richtung. Schließlich erschiene unter dieser Voraussetzung die Beurteilung der Rolle Xusrōs (142.148 f.) in einem gänzlich anderen Licht, was Šuḥālmārans einerseits sehr traditionelle, hinsichtlich eines konkreten zeitgeschichtlichen Bezugs aber zugleich auffallend vage Schilderungen des Antichrists erklären könnte – eben als Abwehr apokalyptischer Erregung und deren gleichzeitige Ausnutzung für paränetische Zwecke (vgl. 146–150).
Es ließen sich weitere Fälle anführen, in denen aufgrund der oben skizzierten methodischen Engführung (mögliche) Zusammenhänge nicht in den Blick kommen. Eine solche Methodenkritik kann freilich, zumal sie gleichsam eine ganze Forschungstradition be­trifft, der Leistung B.s keinen Abbruch tun. Ihrem selbstgesetzten Anspruch wird die Arbeit mehr als gerecht, verortet Šuḥālmārans Schrift in einem komplexen Netz literarischer, theologischer, kirchenpolitischer und historischer Bezüge und leistet so einen substantiellen Beitrag zur Geistes- und Literaturgeschichte des christ-lichen Orients im Allgemeinen und der in der Forschung notorisch unterrepräsentierten Kirche des Ostens im Besonderen.
Kleinere Fehler, Schwächen oder Redundanzen (so wird das Datum der Restitutio Crucis auf S. 58 mit »14. September 629« und auf S. 60 mit »März 630« angegeben, widersprechen sich die Angaben auf den Seiten 88.99 f.102 über den vorübergehenden Brauch einer interkonfessionellen Eucharistiefeier im Kloster Ḥolwān, u. Ä.) sind verzeihlich; einzig das o. g. Fehlen von Verweisen auf die Übersetzung sowie insbesondere das eines Index’ behindern den Leser bei der Lektüre bzw. Benutzung des Buches.
Außer für den christlichen Orient wird B.s Arbeit nicht zuletzt unverzichtbar für die künftige Forschung über den Kontext der zur Zeit Šuḥālmārans sich anbahnenden dramatischen Veränderungen auf weltpolitischer Ebene, der Entstehung und Ausbreitung des Islam, sein.