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Ausgabe:

März/2016

Spalte:

269-271

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hermelink, Jan

Titel/Untertitel:

Kirche leiten in Person. Beiträge zu einer evangelischen Pastoraltheologie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 265 S. = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 54. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-03750-6.

Rezensent:

Ralph Kunz

Die zwischen 1998 und 2013 zum Teil schon veröffentlichten Studien Jan Hermelinks entfalten in unterschiedlichen thematischen Fokussierungen eine Gesamtsicht, die H. in der einleitenden pastoraltheologischen Skizze (9–38) formuliert:
»Der evangelische Pfarrberuf ist primär nicht von gesellschaftlichen Erwartungen her zu begreifen; und er sollte auch nicht zuerst im Rekurs auf die Arbeit mit Einzelnen oder Gruppen, in- und außerhalb der Gemeinde, beschrieben werden. Vielmehr ist es der Kontext der (evangelischen) Kirche, ihre normativen Traditionen sowie ihre komplexen Organisationsformen, in dessen Horizont jener Beruf zu verstehen ist: nämlich als ein spezifisches personales Leitungsamt, das den sachgemäßen Umgang der Kirche mit interner und externer Vielfalt ermöglichen soll.« (9)
Kennzeichnend für die Entfaltung dieses Leitbilds ist der Einbezug empirischer Daten. Aus den Erhebungen lasse sich freilich kein einheitliches Berufsbild ableiten. Vielmehr dominiere der Eindruck einer »Pluralität der Verhältnisse« (14). Dieser Vielfalt (und Widersprüchlichkeit) müssen sich Pfarrer stellen. Der Umgang mit ihr wird von H. als »Kernkompetenz« (ebd.) bezeichnet und in drei grundlegenden Teilkompetenzen skizziert: Deutungskompetenz ist nötig, um die komplexe Vermittlung von Situation und Tradition leisten zu können, Regiekompetenz ist mit Blick auf die vielfältigen Anforderungen im Bereich der Gottesdienstgestaltung, des Unterrichts und der Begleitung und Anleitung der Ehrenamtlichen gefragt. Dabei scheut sich H. nicht, die biblisch-theologische Metapher der Charismen modern-organisatorisch als »kirchliches Diversity Management« zu übersetzen (20). Schließlich ist mit der Darstellungskompetenz die personale Symbolisierung göttlicher Macht und christlichen Lebens eine sowohl personale wie geistliche Dimension des Berufs ausgewiesen, die begrifflich an Schleiermacher erinnert und als eigentliche Schlüsselkompetenz in H.s Leitbild verstanden werden muss. Stellt sich doch im Spiegel der Darstellungsfunktion die Frage nach der Berufsidentität. Pfarrer sind Vorbilder, man traut ihnen die Vermittlung göttlicher Präsenz und mutet ihnen die Vertretung der Kirche zu. Pfarrer sein heißt, sich diesen Anforderungen zu stellen und zugleich in Selbstdistanz zu entziehen (24). Was skizzenhaft entfaltet wurde, lässt sich in den chronologisch nach Entstehen abgedruckten Beiträgen vertieft nachlesen.
Den Auftakt machen Überlegungen zum Gewinn und den Grenzen einer betriebswirtschaftlichen Perspektive auf das Pfarramt unter dem griffigen Titel »Pfarrer als Manager« (39–65). Der Aufsatz spiegelt die Stimmungslage Mitte der 1990er Jahre wider, traktiert aber ein aktuelles Grundsatzproblem. H. bejaht die organisationslogische Übersetzung der Leitungstätigkeit als Management. Er setzt aber »branchenspezifische« Akzente, wenn er mit Ernst Lange an die Rolle des Pfarrers als »Mann der Kirche« erinnert (53 f.), der mit Konflikten in der Vertikalen und Horizontalen klarkommen muss. Die Gefahr einer ungebremsten Übertragung der Anforderungen der Organisation auf das Amt bestehe darin, dem »Mann der Kirche« alles aufzubürden, was die Großinstitution flächendeckend leisten soll. Darum geht es – wenn auch indirekt – auch bei der Frage nach der kirchenleitenden Funktion der Predigt (66–84). Böte sich doch hier die Chance, dem von Lange analysierten Spannungsfeld von diffusem Berufsfeld und überlangen Leis­tungskatalogen mit einem evangelischen Profil der Kybernetik zu begegnen. Hier, gleichsam an der Schnittstelle zwischen Pastoral- und Kirchentheorie, müsste das Predigtamt für eine Profilierung der pastoralen Leitung sorgen. Nun wird die leitende Funktion der Predigt historisch und systematisch dargelegt: als Visitationspredigt (70 ff.), als öffentliche Predigt und kirchliches Gesetz (72 ff.), und im Hören auf Gottes Wort, das die sichtbare Kirche kritisieren und an die verborgene Kirche erinnern kann. Von dieser indirekten Form der Leitung können keine unmittelbaren Konsequenzen für das organisatorische Handeln abgeleitet werden. Sie schafft vielmehr einen Diskursraum, der öffentlich, kritisch und aufmerksam auf zukünftige Gestalt der Kirche achten lässt (84).
H. nimmt eine kirchliche Befragung der Pastorinnen und Pastoren zum Anlass, pastoraltheologische und kirchentheoretische Rückfragen zu stellen (85–100). Die Problematik wird auch im Beitrag »Sind Sie zufrieden?« (101–123) abgehandelt und die Kritik noch deutlicher markiert, wenn im Untertitel von der »Domestizierung des Pfarrberufs durch die kirchliche Organisation« gehandelt wird. Befürchtet wird die »Fokussierung auf messbare Ziele« (121) und der »Ausfall der theologischen Reflexion« (122). Der Aufsatz »Pastorales Wirken im Spannungsfeld von Organisation, Person und ›geistlicher‹ Darstellung« (124–144) vertieft und erweitert diese Kritik – und relativiert sie zugleich. Denn die Organisation muss lernen, den gesamtkirchlichen Profilierungsanspruch da­durch wahrzunehmen, dass sie »das Ineinander von inhaltlicher Bindung und beruflicher Freiheit« stärkt (130). Werden Erwartungen an die Kirche unkritisch mit der »Wirkung des pastoralen Berufs« gekoppelt (140), ist die Freiheit des Evangeliums – das, was dieser Beruf prägnant zur Darstellung bringt – gefährdet (144). Auch in den Vermutungen über den Bedeutungsverlust des pastoralen Wohnens plädiert H. für die Freiheit. Kirchenleitungen müssen akzeptieren, dass auch Amtsträger das Recht auf einen Freiraum hinter der Bühne haben (145–150).
Eine Veränderung auf der Vorderbühne wird im Beitrag »Frauen auf der Kanzel« traktiert (151–167). H. legt biblische, kirchliche und theologische Konfliktlinien frei und kommt – überraschend – auf eine Einsicht der dialektischen Theologie zu sprechen: Auf der Kanzel wird »nicht Gewissheit zum Ausdruck gebracht, sondern Fraglichkeit« (165). Gottes Wahrheit wird als »Artikulation der Offenheit« am besten von möglichst verschiedenen Personen bezeugt. Analoges lässt sich von der Leitung sagen: In Erinnerung an Schleiermacher und Luther wird die Gemeindeleitung als »Sorge für die gemeinsame Darstellung des Glaubens« (182–184) begriffen. Der folgende Beitrag ist m. E. das Glanzstück des Bandes. H. nimmt darin die Qualitätsdebatte auf und setzt zu einer Kriteriologie der Qualitätsbeschreibung der pastoralen Arbeit an, zu der auch der Zweifel gehört (187–204). Wie Brechts Intellektueller ist auch der Pfarrer der Wahrheit verpflichtet. Er soll irritieren (189). Mit Josuttis zeigt H., wie wichtig die Begrenzung der eigenen und kirchlichen Allmachtswünsche ist. Qualitätsbewusstsein zeigt sich also nicht an einer erfolgreichen Selbstoptimierung, sondern in der bewussten Reflexion der eigenen religiösen Symbolfunktion. Das »Wesentliche des kirchlichen auch des pastoralen Wirkens […] darf […] nicht gemessen werden, weil es nicht weniger als die göttliche Unverfügbarkeit markiert« (203).
H. legt mit diesem Band profunde pastoraltheologische Studien vor, die gegenwärtige Entwicklung der Kirche kritisch beobachten, aber immer auch Brücken zur Tradition wie zur Praxis schlagen. Einige Beiträge wie der Aufsatz »Berufung zur Freiheit und Berufliche Kompetenz« – ein weiteres Juwel in der Sammlung (220–238) – verdienen eine zweite Veröffentlichung. H. löst das Versprechen ein, dass er im Eingang gibt: Verstanden wird der evangelische Pfarrberuf primär im Kontext der normativen Traditionen der Kirche.