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Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

127-129

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Sadowski, Sigurd

Titel/Untertitel:

Kirche, wo Not ist – wo Kirche not ist. Notfall-Seelsorge als parochiale Aufgabe.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 244 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-03749-0.

Rezensent:

Michael Klessmann

In seiner Bonner Dissertation von 2012/13 stellt Sigurd Sadowski, Gemeindepfarrer und Notfallseelsorger in der Landeskirche Kurhessen-Waldeck, Notfallseelsorge vorrangig als »parochiale Aufgabe« dar. »Notfall-Seelsorge leistet Beistand in akuter Not. Sie ergibt sich aus der gemeindlichen Seelsorge vor Ort und mündet in diese« (7). Immer wieder betont er die These, »dass es zwingend notwendig ist und bleibt, Notfall-Seelsorge aus dem Gemeindepfarramt heraus zu denken und zu leisten.« (18) Bereits die Schreibweise mit Bindestrich soll verdeutlichen, »dass es sich dabei immer um eine Form gemeindlicher Seelsorge handelt, die nicht aus poimenischen Diskussionen, sondern aus konkreten Praxiserfahrungen entstanden ist. Der weitgehend in der Literatur verbreitete Begriff Notfallseelsorge geht zu stark einher mit den institutionalisierten und damit spezialisierten Seelsorge-Systemen jenseits der Gemeinde, wie z. B. der Krankenhaus-, Polizei- oder auch Militärseelsorge.« (21, Anm. 11) Ich verstehe das Anliegen des Vf.s so, dass er die tatsächliche Vielfalt der Organisationsformen und Anbindungsmodelle von NFS in den beiden großen Kirchen zurückführen möchte auf deren inneren Kern, die Seelsorge an Menschen in Not in der Gemeinde. Eine solche Absicht erscheint einerseits nachvollziehbar, andererseits geht sie an der unvermeidbaren Vielschichtigkeit der Arbeitsformen (als Antwort auf die große Bandbreite von Notfallsituationen) vorbei; weder wird vom Vf. die Frage nach Freiwilligkeit und Eignung derer, die im Gemeindepfarramt tätig sind, für die NFS gestellt noch die verbreitete Säkularisierung und Multireligiosität unserer Gesellschaft in ihren Auswirkungen für Theorie und Praxis der NFS reflektiert.
Nach der Entfaltung der Fragestellung geht es im zweiten Kapitel um die geschichtliche Entwicklung der NFS im Vergleich und im Unterschied zu anderen psychosozialen Krisendiensten.
Das dritte Kapitel stellt NFS als pfarramtlichen Auftrag dar: Am Beispiel eines plötzlichen Todesfalls aufgrund eines Herzinfarkts wird gezeigt, wie in einer solchen Krise der Gemeindepfarrer zum Notfall-Seelsorger wird. Dieser Fall wird prototypisch für die Notfall-Seelsorge überhaupt genommen, um den parochialen Ur­sprung der NFS zu demonstrieren. Verschiedene Stationen kirchlicher Seelsorge, diakonische, bezeugende und liturgische Aspekte werden entfaltet – und immer wieder geht es dem Vf. darum, parochiale Seelsorge von einer funktionalen scharf abzugrenzen. Dabei ist natürlich nachvollziehbar, dass bei innerhäuslichen Notfällen in der Gemeinde der Gemeindepfarrer die Aufgabe der Notfallseelsorge wahrnimmt; und auch, dass die Notfallseelsorger bei überregionalen Notfällen versuchen, die jeweilige Gemeindeseelsorge einzubinden. Aber daraus die gesamte NFS abzuleiten, sie bei größeren Unfällen und Katastrophen vom parochialen Ansatz her zu verstehen, scheint mir keineswegs zwingend und auch nicht unbedingt weiterführend. Der Vf. baut eine Polarisierung auf, wo eine wechselseitige Ergänzung parochialer und funktionaler Tätigkeiten empfehlenswert wäre (wie er sie selber in einer kurzen Fußnote S. 75, 168 andeutet).
In der Poimenik eines Notfalls (Kapitel IV) wird NFS als »diakonisch-religiöse Kommunikation des Evangeliums« dargestellt; diese Art der Kommunikation, die der Vf. unter der Überschrift »Liebe« im Anschluss an 1Kor 13 als Zentrum notfallseelsorglicher Arbeit ausführlicher entfaltet, bringt eine fremde und produktiv störende Perspektive in die Notfallsituation. Am Beispiel eines ausführlich wiedergegebenen Einsatzkräftegottesdienstes in Melsungen (Kapitel V, die gesamte Liturgie einschließlich Predigt ist als Anhang 179 ff. abgedruckt) soll noch einmal die Vernetzung zwischen den Rettungsdiensten und dem »Lebensvollzug der Gemeinde« gezeigt werden, wenngleich hier wenigstens angedeutet wird (159 f.), dass es natürlich auch außerhäusliche Notfälle (Verkehrsunfälle, Suizide, Überbringen einer Todesnachricht, Großschadenslagen) gibt, die eine andere Art des Einsatzes und dann auch andere Kompetenzen erfordern als die häufiger vorkommenden innerhäuslichen Notfälle. Das »Miteinander der Hilfsdienste« vollzieht sich auf der Ebene einer Region, eines Kirchenkreises, und damit deutlich Parochie-übergreifend.
In einem kurzen Schlusskapitel »Die Not der Notfall-Seelsorge« (169 ff.) verweist der Vf. auf die nicht mehr überschaubare Flut an Literatur zum Thema; auf die Notwendigkeit, bundeseinheitliche Qualitätsstandards durchzusetzen und zu einer verbindlichen Vernetzung von kirchlichen und säkularen Akteuren zu kommen; und gibt der Hoffnung Ausdruck, dass NFS in Ausbildung und Praxis des Pfarramtes gestärkt werden möge. Ein ausführliches Literaturverzeichnis (50 Seiten!) ist verdienstvoll, durch die Aufteilung in acht Subkategorien jedoch nicht ganz einfach zu nutzen.
Eine Stellungnahme zum vorliegenden Buch fällt mir schwer: Die Arbeit ist wenig systematisch strukturiert, es finden sich eine Fülle von Redundanzen sowie Aneinanderreihungen von theologischen Richtigkeiten.
Die theologische Begründung der NFS von 1Kor 13 her finde ich nicht spezifisch genug für diesen Arbeitsbereich. Und beinahe penetrant wird immer wieder die eine These vorgestellt: »Notfall-Seelsorge ist und bleibt Gemeindearbeit« (163 u. ö.). Die Frage nach einer sinnvollen Form der Kooperation und wechselseitigen Ergänzung zwischen parochialen und funktionalen Diensten wird nicht erörtert, ebenso wenig die Frage, welche Auswirkungen die verbreiteten Krisensymptome gegenwärtiger Volkskirche langfristig für diesen Ansatz der NFS bedeuten. Die Notwendigkeit spezieller Aus- und Weiterbildung für NFS und die Frage, wie das von der Gemeindeseelsorge her zu leisten ist bzw. wie andererseits Gemeindeseelsorge davon profitieren könnte (z. B. Kenntnisse in Krisenintervention und Psychotraumatologie), wird gestreift, aber nicht wirklich diskutiert. Schließlich er­scheint der Stil des Vf.s häufig verschwommen, zwei Beispiele für viele: »Ein derartiger Un-Fall entwickelt sich als Zu-Fall zum Not-Fall« (134); »Notfall-Seelsorge ist darum immer Theologie im Umgang mit Gott« (139). Angesichts dieser Eindrücke bin ich als Leser unsicher, welche Be­deutung das Buch für die Weiterentwicklung der NFS haben kann.