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Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

125-127

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Plate, Christian

Titel/Untertitel:

Predigen in Person. Theorie und Praxis der Predigt im Gesamtwerk Otto Haendlers.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 333 S. = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 53. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-03745-2.

Rezensent:

Ruth Conrad

Fragen und Perspektiven der historischen Homiletik haben zuletzt wieder verstärkt Aufmerksamkeit erlangt. Darauf hat u. a. Klaus Raschzok hingewiesen (Predigt als Leseakt. Essays zur homiletischen Theoriebildung, Leipzig 2014, 32). Diese neue Aufmerksamkeit für die homiletische Theoriegeschichte ermöglicht es, die Tradition bestimmter Themen und entsprechender Diskurse mit gegenwärtigen, dann oft nur noch scheinbar neuen Fragen und Problemen zu verknüpfen. Die Genese, Wandlungs- wie auch Be­harrungskompetenz mancher Theoreme und Denkfiguren wird auf dem Weg der historischen Rekonstruktion durchsichtig.
In diesen Kontext ist auch die Studie von Christian Plate zur Homiletik Otto Haendlers (1890–1981) einzuordnen. Sie entstand im Rahmen eines von der DFG geförderten und von Wilfried Engemann (Wien) geleiteten Projektes zur Edition ausgewählter, teilweise bislang nicht zugänglicher Schriften von Haendler. P.s Re­konstruktion von Haendlers homiletischer Theoriebildung und Predigtpraxis kann daher neben den bekannten Arbeiten Haendlers auch auf bislang nicht veröffentlichte Materialien zurückgreifen, so z. B. Haendlers Habilitationsschrift »Die Idee der Kirche in der Predigt« oder eine Auswahl aus den ca. 250 erhaltenen unveröffentlichten Predigten. Die Darstellung P.s ist klar strukturiert und folgt einem plausiblen Aufbau. In einem ersten Kapitel wird die theologische Denkbewegung Haendlers kontextualisiert. Zu­nächst in dessen ausführlich nachgezeichneter Biographie, da – so P. – theologisches Denken im Sinne von »Wahrscheinlichkeitsräume[n]« und »Deutungsperspektiven[n]« (18) jeweils mit den »konkreten Lebensumständen des betreffenden Autors« (7) verknüpft ist. Diese konkreten Lebensumstände sind wesentlich durch den Nationalsozialismus und das Leben und Lehren in der DDR be­stimmt. Sodann folgt die Einzeichnung in die zeitgenössische Debattenlage sowohl der Praktischen Theologie wie speziell der Homiletik in der ersten Hälfte des 20. Jh.s und in diejenigen geis­tesgeschichtlichen und wissenschaftlichen Impulse, die Haendler geprägt haben. Am bekanntesten sind die der Berneuchner Bewegung und von C. G. Jungs Tiefenpsychologie, dann auch die leider eher knapp vorgestellten Anschlüsse zur Lebens- und Existenzphilosophie wie zum Strukturalismus. Diese ausführliche historische Kontextualisierung ist in der zugedachten Funktion und dem ge­wählten Rahmen – Begrenzungen sind im Rahmen der Gesamtan lage des Projektes unumgänglich – hilfreich. Gelegentlich lässt sich P. freilich zu Mutmaßungen und Zuschreibungen verleiten (z. B. 22 f. 38 etc.). Dieser Eindruck könnte sich aber auch dem an manchen Stellen etwas flüchtigen Sprachgestus verdanken.
Das zweite und ausführlichste Kapitel entfaltet Haendlers Predigttheorie. P. geht systematisch die »klassischen homiletischen Topoi« (5) durch und präsentiert jeweils Haendlers Überlegungen. Das heißt: Die Darstellung Haendlers folgt stärker einem von außen zugeführten interpretatorischen Rahmen und wird weniger aus den leitenden Ideen Haendlers selbst entwickelt. Diese finden in­nerhalb des gewählten Interpretationshorizontes Darstellung. Folgende Perspektiven werden verhandelt: Haendlers Theologie der Predigt – entfaltet wird die Bestimmung, dass die Predigt »Verkündigung der Wirklichkeit Gottes in erhellender gestalteter Rede« sei (112) – erweist sich als dem homiletischen Anliegen der sogenannten Dialektischen Theologie verwandt (vgl. die Verwendung des Verkündigungsparadigmas), weicht aber in der methodischen Um­setzung stark ab. Die Aufgabe der Predigt wird pädagogisch, poimenisch, geistlich und korrelativ bestimmt. Speziell an der pädagogischen Bestimmung der Predigt zeigt P. die Vieldimensionalität von Haendlers Ansatz – einerseits setzt er beim einzelnen Menschen und dessen Situation an, andererseits versucht er, die »›Idee der Kirche‹ als gemeinschaftsbildende und identitätsstiftende Größe im Bewusstsein der Hörer zu implementieren, um so ein Gegengewicht zu den widerchristlichen Strömungen dieser Zeit zu schaffen« (123). Die Idee der Kirche und ihrer Gemeinschaft fungiert homiletisch als Modus der (Selbst-)Aktivierung der Hörer.
Es folgen Überlegungen zu dem für Haendler zentralen Subjekt des Predigers und dazu, wie sich dies in der Predigtvorbereitung zur Darstellung bringt. Gesprächstherapie und Meditation werden als adäquate Modelle der Selbstreflexion vorgestellt. Dahinter steht die Idee, dass gerade die Kenntnis der eigenen Person verhindert, diese zum Inhalt der Predigt zu machen, weil sich oft das, was nicht thematisiert wird, am deutlichsten Geltung und Gehör verschafft. Die Person des Predigers als Bedingung der Evangeliumspredigt bedarf – so Haendlers Argumentation in erkennbarer Distanz zu zeitgenössisch leitenden Paradigmen – der (Selbst-) Reflexion, gerade um das Evangelium sachadäquat zur Sprache zu bringen. Im Anschluss an die Ausführungen zum Predigttext – Haendler versteht den biblischen Text als »Urkunde« – erörtert P. Haendlers Bestimmung von Hörer und Situation im Horizont grundsätzlicher anthropologischer Ambivalenzen. In zahlreichen Schriften und Beiträgen verwendet Haendler binäre, ambivalente Codes, um die menschliche Situation zu beschreiben: »Denken und Glauben«, »Angst und Glaube« etc. (176). An diese schließt P. an, um Haendlers Verständnis des Hörers zu konturieren und »die bewusste Einbeziehung der conditio humana in die theologische Theoriebildung« zu zeigen (222). Abschließende Beobachtungen zu Haendlers Bestimmung der Predigtgestaltung runden dieses inhaltsreiche Kapitel ab. Zu­sammenfassend pointiert P. den Ertrag durch acht adverbiale Beschreibungen von Haendlers Homiletik: korrelativ predigen, wirksam predigen, kongruent predigen, schriftgemäß predigen, priesterlich predigen, präsent predigen.
Drei dieser adverbialen Bestimmungen rückt P. ins analytische Zentrum des dritten Kapitels, in welchem er 78 ausgewählte Predigten Haendlers vor dem erarbeiteten Theoriehintergrund analysiert. Die ausgewählten Predigten decken einen großen Zeitraum (1914–1977) wie auch unterschiedliche Anlässe ab, schwerpunktmäßig Gemeindepredigten, Predigten aus akademischen Kontexten sowie Kasualansprachen. P. arbeitet biographie- und kontextbedingte Veränderungen der inhaltlichen Schwerpunkte der Pre-digten heraus. So schwächt sich bspw. die christozentrische Ausrichtung auffällig ab. Vertieft wird eine Deutung der Predigt als kongruentes, priesterliches und schriftgemäßes Handeln. Der Kongruenzaspekt zielt auf das Verhältnis von Predigerpersönlichkeit und Predigt im Predigtwerk Haendlers – wie thematisiert Haendler seine eigene Person, direkt und indirekt? Der Gedanke der Priesterlichkeit der Predigt blickt auf das Verhältnis von Prediger und Hörer – der Prediger vermittelt die ambivalente lebensweltliche Situation des Hörers mit der Wirklichkeit Gottes. P. kritisiert, dass Haendlers konkrete Praxis hier über »anthropologische[] Allgemeinplätze« (257) und Belehrungen nicht hinauskomme. Die homiletische Theorie bilde nicht die konkrete Praxis ab. Und unter der Überschrift der Schriftgemäßheit der Predigt werden das Verhältnis von Text und Thema in Haendlers Predigtpraxis sowie das spezifische »Problem« der Predigt alttestamentlicher Texte an vorhandenen Manuskripten mit dem Theoriebefund verglichen.
Das vierte und abschließende Kapitel erarbeitet die Rezeption von Haendlers Homiletik – über die Kritik seitens der Wort-Gottes-Theologie hin zu ersten Anschlüssen in den 1950ern, bevor dann besonders die Seelsorgebewegung der 1970er zu einer »Haendler-Renaissance« führt (276).
Die Arbeit von P. entfaltet ausführlich und auch in kritischer Distanz das facettenreiche homiletische Werk Haendlers. Gelegentlich bleibt leider etwas undeutlich, ob Haendlers Denkfiguren rekonstruiert oder bereits fortgeschrieben, teilweise vielleicht auch durch aktuelle Terminologie oder Kategorien überschrieben werden (vgl. z. B. die homiletische Rede von der »Lebenskunst«, 129, oder die Verwendung analytischer Kategorien von W. Engemann, 244 ff.). Bezüge gegenwärtiger Diskurse deutet P. an und verweist damit jeweils auch auf das Gegenwartspotential historischer Ho­miletikforschung, indem er die Transformation von Diskursen und ihre konstanten Parameter transparent macht. Die Studie weckt daher großes Interesse, sich den Texten Haendlers selbst zuzuwenden.