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Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

113-114

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Kruse, Andreas, Maio, Giovanni, u. Jörg Althammer

Titel/Untertitel:

Humanität einer alternden Gesellschaft.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2014. 104 S. = Veröffentlichungen der Joseph Höffner Gesellschaft, 3. Kart. EUR 14,90. ISBN 978-3-506-77943-4.

Rezensent:

Gunda Schneider-Flume

Unter welchen Bedingungen kann eine alternde Gesellschaft human bleiben? In einem Band der Joseph-Höffner-Gesellschaft antworten auf diese Frage der Gerontologe Andreas Kruse, der Philosoph Giovanni Maio und der Wirtschaftswissenschaftler Jörg Althammer.
Andreas Kruse nähert sich dem Thema mit der Skizze einer Anthropologie des Alters, die Menschen zu einem »gelingenden Alter« führen soll. Er setzt ein mit einem Rückblick auf Ciceros Schrift »Cato Major de senectute« (verfasst 44 v. Chr.). Im Zentrum stehen vor 2000 Jahren ebenso wie heute Selbstgestaltung und Selbstsorge, die den lebenslangen Prozess des Alterns, der an sich keine Krankheit ist, zur Vollendung führen. Nach stoischem Vorbild begegnet man dem Tod mit Ruhe, denn er gilt nicht nur als Ende, sondern als Ziel der Lebensbahn, so wie es heute auch in der Religiosität der sogenannten Gerotranszendenz vertreten wird.
Gemäß dem Vorbild antik-stoischer Gedanken ist das Altern ein Entwicklungsweg, der Individuen zur Integrität führt. Erik Eriksons Entwicklungsmodell steht hier Pate. Generativität, Beschäftigung mit der Zukunft nachfolgender Generationen, sowie die dreifache Verantwortung gegenüber dem Selbst, den anderen und der Schöpfung bestimmen eine altersfreundliche Kultur. Die gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen, auch der an Demenz Erkrankten und der Gebrechlichen, wird hervorgehoben. Mit einer Fülle von Hinweisen auf Literatur und Kunst zeichnet Kruse den Weg des Alters zu erfolgreicher Vervollkommnung des Individuums.
Giovanni Maio setzt nicht beim Individuum ein, sondern beim unverfügbar gegebenen Leben. Das Verständnis des Lebens er­schließt auch das zum Leben gehörende Sterben und den Tod. Im Leben aber ist nach Maio das Annehmen wichtiger als das Machen. Wenn die Würde des Menschen allein in Autonomie und Kontrolle gesehen wird, dann wird Leben oder Nicht-mehr-Leben eine Op-tion für die Individuen und aktive Sterbehilfe ein Gebot.
Das Annehmen des Lebens wird schwierig in dem Maße, wie sich die Vorstellung durchsetzt, dass Leben makellos sein muss. Gebrechliches und behindertes Leben mit Leid wird nur schwer akzeptiert. Aber Leben in totaler Unabhängigkeit sei eine Ideologie, Angewiesenheit sei vielmehr die conditio humana. Deshalb gelte es, eine Kultur des Beistandes zu entwickeln und nicht nur den Weg zum Suizid zu bahnen.
Das Alter sei nicht nur eine Schwundstufe. Deshalb dürfe das Sterben nicht aus dem Leben verbannt werden. Die moderne Rationalisierung des Todes als autonomes Machen privatisiere den Tod und löse seine sozialen Bezüge auf. Angeregt von Paul Ricœur verweist Maio auf die Bedeutung der Gemeinschaft mit Sterbenden, die begleitet werden. Um Leben in seiner Unwiederbringlichkeit zu begreifen, bedarf es der Mobilisierung der tiefsten Lebensquellen, der Annahme, der Dankbarkeit, der Erfahrung, dass Leben Geschenk sei. Maio plädiert für Gelassenheit am Ende des Lebens und für eine Ethik der Annahme.
Aus wirtschafts- und sozialpolitischer Sicht nimmt Jörg Althammer den demographischen Wandel in den Blick. Dabei geht es um empirische Fakten und um die Frage nach der inter- und intragenerationellen Gerechtigkeit. Im Mittelpunkt stehen die Fragen nach Ehe und Familie und nach ihrer gerechten Bewertung und Besteuerung. Althammer beruft sich auf die Bedeutung des Wortes der Deutschen Bischofskonferenz »das Soziale neu denken«. Da­nach seien Familien für die Sozialversicherung »systemrelevant«. Deshalb wird die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung ebenso als sachadäquat beurteilt wie das Ehegattensplitting.
Zwei Perspektiven stehen einander gegenüber: die Forderung nach der Entwicklung zu »gelingendem Altern« und die Anerkennung des Lebens als Gabe. Im Bewusstsein der Leistungsgesellschaft droht allerdings die Erstere die Letztere zu verdrängen. Die Dimension der »giftedness« geht verloren, wie der amerikanische Philosoph M. J. Sandel sagt. Für alte Menschen aber ist das »leben dürfen« von besonderer Bedeutung.