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Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

99-101

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Insole, Christopher J.

Titel/Untertitel:

Kant and the Creation of Freedom. A Theological Problem.

Verlag:

Oxford: Oxford University Press 2013. XIV, 264 S. Geb. US$ 125,00. ISBN 978-0-19-967760-3.

Rezensent:

Martin Breul

Christopher J. Insole untersucht in der vorliegenden Monographie das Verhältnis von göttlicher und menschlicher Freiheit im Werk Immanuel Kants. Die Leitfrage des Buches lautet dabei, wie in der kantischen Philosophie das schöpferische Handeln des freien Gottes mit menschlicher Freiheit und Autonomie in Einklang zu bringen sei. Dieses genuin theologische Problem habe, so die Kernthese des Vf.s, die Entwicklung sowohl des transzendentalen Idealismus als auch des freiheitstheoretischen Libertarismus in Kants kritischer Phase motiviert. Der Fokus des Werks liegt gleichermaßen auf zwei Aspekten: Zum einen unternimmt der Vf. eine detaillierte Kant-Exegese und untersucht, inwiefern das kompatibilistische Verständnis göttlicher Freiheit aus Kants vorkritischer Phase we­sentlich für die Konzeptionierung menschlicher Autonomie in Kants kritischer Phase war. Neben dieser werkexegetischen Rekonstruktion hat der Vf. jedoch auch den systematischen Anspruch, zu prüfen, inwiefern eine Religionsphilosophie in kantischen Bahnen eine zeitgemäße Theologie informieren kann.
Um diesem ambitionierten Projekt gerecht zu werden, analysiert der Vf. zunächst die kantische Konzeption göttlicher Freiheit, die, im Gegensatz zur kantischen Konzeption menschlicher Autonomie, nicht die Möglichkeit einschließt, auch anders handeln zu können. Damit ist die kantische Konzeption göttlicher Freiheit einer klassischen kompatibilistischen Position verpflichtet, welche auch sein vorkritisches Verständnis menschlicher Freiheit prägt (Kapitel 2–4). Die folgenden Kapitel 5–7 sind der Rekonstruktion des Begriffs menschlicher Freiheit aus Kants kritischer Phase gewidmet, in der er den prä-kritischen Kompatibilismus hinter sich lässt und sich einer libertarischen Position zuwendet: Durch die Entwicklung des transzendentalen Idealismus wird »noumenale Erstverursachung« bzw. noumenale Freiheit möglich, die weder räumlich noch zeitlich verfasst ist. Gott erschafft Menschen als »noume nale Substanzen«, die der atemporalen Erstverursachung fähig sind, und die damit sowohl die Möglichkeit haben, auch stets anders handeln zu können, als auch letztlich verantwortlich für ihre Handlungen zu sein. In den abschließenden Kapiteln 8–10 unternimmt der Vf. einige genuin theologische Untersuchungen hinsichtlich des Schöpfungsgedankens und der Frage nach dem Handeln Gottes in der Welt im Rahmen der kantischen Philosophie. Der Vf. versucht dabei, Kant näher an die sogenannte »christliche Orthodoxie« heranzurücken, die er hauptsächlich mit scho-lastischen Positionen identifiziert, z. B. der Idee eines Zusammenfalls der Verursachung von Ereignissen durch Gott und durch noumenale Substanzen.
Der Vf. legt mit seinem Werk eine detaillierte und tiefgehende Auseinandersetzung mit Kants Freiheitskonzeption vor, die so­wohl werkgeschichtlich als auch systematisch informiert ist. Dieses Werk ist nicht nur geistesgeschichtlich interessant, sondern auch aufgrund seiner unmittelbaren systematisch-theologischen Implikationen, z. B. für zeitgenössische freiheitstheoretische An­sätze in Theologie und Philosophie. So ist der Nachweis, dass, Kant zufolge, eine angemessene Bestimmung der Freiheit Gottes nicht die Möglichkeit einschließt, anders handeln zu können, eine theologisch bisher nicht ausreichend rezipierte Idee. Dieser freiheitstheoretische Kompatibilismus im Blick auf göttliche Freiheit, der die libertarische menschliche Freiheit als defizient erscheinen lässt, ist sowohl für theologische Entwürfe, die Freiheit als Schlüssel-kategorie verstehen, als auch für die philosophische Debatte um Willensfreiheit und verantwortete Urheberschaft von großer Relevanz. Es ist zwar werkexegetisch umstritten, inwiefern der Begriff göttlicher Freiheit in Kants kritischer Phase nach wie vor kompatibilistisch zu verstehen ist; die Interpretation des Vf.s ist jedoch legitim und zugleich eine bedenkenswerte Position für zeitgenössische systematische Debatten.
Weiterhin räumt der Vf. mit weit verbreiteten »deflationären« Lesarten des kantischen Werkes auf, die bestreiten, dass Kant wirklich an noumenale Freiheit oder die Existenz Gottes geglaubt habe bzw. behaupten, dass diese Konzepte verzichtbare Lückenbüßer in seinem Theoriegerüst seien. In seiner kontroversen, aber durchaus plausiblen Werkexegese macht der Vf. hingegen deutlich, dass diese Annahmen weder zu internen Inkohärenzen in Kants Werk führen noch argumentativ überflüssige Elemente sind. Die vorkritische wie auch die kritische Philosophie Kants sind tief in theologischen Kontroversen verwurzelt, und die Postulate der praktischen Vernunft sind keineswegs ein vernachlässigbarer Appendix seines Werkes.
Schließlich ist die kantische Idee, religiöse Überzeugungen als Aussagen der praktischen Vernunft zu verstehen, die zwar vom Wissen unterschieden sind, sich aber nicht in einem fideistisch-subjektiven Meinen erschöpfen, eine zentrale und zeitgemäße Form der Analyse von Glaubenssätzen. Der Vf. leistet mit seinem Werk einen wichtigen Beitrag zur zeitgenössischen Diskussion um einen »praktischen Vernunftglauben«, wenn er nachweist, dass mit der Verortung religiöser Überzeugungen in der praktischen Vernunft dennoch ein realistisches, kognitivistisches und universa-listisches Verständnis der geltungslogischen Reichweite dieser Überzeugungen einhergeht (149–161).
Naturgemäß erfüllt ein Großprojekt, wie es das vorliegende Buch ist, nicht alle Erwartungen. Neben den feinen exegetischen Verästelungen, die durchaus kontrovers sind, ist insbesondere die systematische Verknüpfung des kritischen Kant mit scholastischen Konzepten wie eines thomistischen Substanzbegriffs (115 f.) oder einer anselminisch verstandenen satisfaktionstheoretischen Soteriologie (238 f.) nicht plausibel. Weiterhin schmälert die Erklärung der Möglichkeit des Bösen als »systematisch unerklärlich« (131 f.), die der augustinischen Traditionen verbunden ist, die Möglichkeit einer systematisch-theologischen Konzeption, falls die Akzeptanz der augustinischen Privatio-Boni-Lehre wirklich notwendig für die Akzeptanz einer kantischen Freiheitstheorie wäre (134 f.). Insgesamt unterstellt der Vf. der zeitgenössischen theologischen Forschung auf problematische Weise, dass sie nach wie vor in den Bahnen einer außerordentlich orthodox-traditionalistischen Auffassung der christlichen Theologie operiere und Kant nur dann zu rezipieren sei, wenn eine derart verstandene christliche Orthodoxie mit ihm in Einklang zu bringen sei. Dies führt am Ende zu einigen interpretatorischen Verrenkungen, um Kant mit ebendieser Or­thodoxie versöhnen zu können. Es ist m. E. nicht erforderlich, Kant mit der scholastischen Idee eines notwendigen Zusammenfalls göttlicher und menschlicher Verursachung von weltlichen Ereignissen zu verknüpfen, um auch theologisch oder religionsphilosophisch mit ihm zu arbeiten; und auch der vermeintliche Nachweis, dass Kant nach wie vor von einem quasi-scholastischen Substanzbegriff ausgeht, wenn er von »noumenalen Substanzen« spricht, ist werkexegetisch wie auch systematisch problematisch.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass der Vf. ein außerordent-liches Buch vorlegt, dem das Kunststück gelingt, eine detaillierte, innovative sowie zugleich kontroverse Kant-Exegese zu bieten und dabei die systematischen Anschlüsse für zeitgenössische Debatten in den Blick zu nehmen. Das Werk ist damit für Theologen wie für Philosophen gleichermaßen relevant und bildet einen wichtigen Beitrag zu zentralen zeitgenössischen Debatten der Theologie und der Religionsphilosophie.