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Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

72-74

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Liao, Yiwu

Titel/Untertitel:

Gott ist rot. Geschichten aus dem Untergrund – Verfolgte Christen in China. Aus d. Chin. übers. v. H. P. Hoffmann.

Verlag:

Frankfurt a. M.: S. Fischer 2014. 352 S. Geb. EUR 21,90. ISBN 978-3-10-044814-9.

Rezensent:

Georg Evers

Liao Yiwu, bekannter chinesischer Schriftsteller und Dissident, hat in den Jahren 2005–2006 vor seiner Flucht nach Deutschland durch einen christlichen Arzt in der Provinz Yunnan Kontakt mit Chris-ten aus den Volksgruppen der Yi und Miao gehabt, deren Geschichten von Verfolgung er aufgezeichnet hat. Die Anregung, seine Erfahrungen und Aufzeichnungen über die verfolgten Christen zu publizieren, hat ihm der Friedensnobelpreisträger Liu Xiabo gegeben. L. bezeichnet sich selber als ein »nicht sonderlich anständiger Autor vom Bodensatz der Gesellschaft«, der beeindruckt vom Zeugnis der verfolgten Christen diesen »seine Reverenz« erweisen will (14). L. hat seine Gespräche per Tonband aufgezeichnet und sie später ausgewertet.
Die Umstände, unter denen die Aufzeichnungen zustande ka­men, schildert er ausführlich und zeichnet mit seiner Sprachgewalt ein eindrucksvolles Bild der Lebensumstände der Stammesbevölkerung der Yi und der Miao in den Bergen um Kunming. So schildert L. das Schicksal des Presbyters Zhang Yingrong, der eindrucksvoll beschreibt, wie er während des »Großen Sprungs vorwärts« in den 1950er Jahren und in der Kulturrevolution (1966–1976) wegen seines Glaubens misshandelt wurde und mehrfach dem Tode nahe war. Pastor Zhang Maoen, der zur Volksgruppe der Yi gehört, berichtet über die Willkür und Pöbelherrschaft während der Bodenreform Anfang der 1950er Jahre. Besonders eindrucksvoll sind die zwei Interviews, die L. mit dem Sohn von Pastor Wang Zhiming (1907–1973) geführt hat, der als Märtyrer während der Kulturrevolution gestorben ist und der zu den »Zehn Märtyrern des 20. Jahrhunderts« gehört, deren Statuen 1998 an der Fassade der Westminster-Abbey aufgerichtet wurden. Die unter schwierigen Um­ständen entstandenen Interviews lassen den Fanatismus und die Grausamkeit der Rotgardisten wieder lebendig wer-den und geben ein eindrucksvolles Zeugnis von der Glaubenskraft von Pastor Wang Zhiming und anderen mit ihm verfolgter Christen.
Es ist beeindruckend, und macht den Reiz des Buches aus, wie die Berichte über das Zustandekommen der Interviews von den literarischen Fähigkeiten des Schriftstellers L. leben und Farbe bekommen. Es ist erstaunlich und eindrucksvoll, dass L., der selber kein gläubiger Christ ist, sich in das Denken und die Mentalität der einfachen Christen aus der Stammesbevölkerung der Yi und Miao hineinversetzt hat. Seine Sympathie für ihren Glauben und für ihre Bereitschaft, zu ihren Überzeugungen zu stehen und Leid und Verfolgung anzunehmen und durchzustehen, hat ihn offensichtlich tief beeindruckt. Seine Reflexion über das »ewige Gebet«, das sich seit Generationen in allen Religionen fortsetzt und von noch so gewaltsamen Systemen nicht ausgemerzt werden kann (275), hat L., den Nicht-Gläubigen, dazu gebracht, anzufangen, selber »innerlich zu beten«, und zeugt von seinem tiefen Verständnis für die Spiritualität dieser einfachen Christen. Der Bericht über Doktor Sun (124–149), der als Mediziner zunächst »im System« tätig war, Christ geworden, aber aus dem Dienst ausscheiden muss und dann als »Barfuß-Doktor« in den Bergregionen von Yunnan und Sichuan tätig geworden ist, gibt einen guten Einblick in die Defizite der ärztlichen Versorgung in der VR China. Aber es eröffnet auch einen Blick auf die Möglichkeiten, die sich für einen aus christlichen Motiven arbeitenden Mediziner eröffneten. In der Geschichte des Schneiders Li Linshan (185–208), der 1963 während der großen Hungersnot in einem Dorf der Bai in der Provinz Yunnan geboren wurde, werden die Leiden der armen Bevölkerung auf dem Lande, die unter Wassermangel in fürchterlichen hygienischen Verhältnissen mit Läusen und Ungeziefer kämpfend um ihre Existenz ringt, lebendig. Ergreifend ist der Bericht des an Magenkrebs er­krankten und langsam daran sterbenden Li, der zum christlichen Glauben gefunden hat, der ihm Halt und Sendung gibt.
In dem Kapitel »Kommunionfeier« (209–218), das wohl besser die Überschrift »Gebets- und Zeugnisgottesdienst« tragen würde, wird von der Ausstrahlung des christlichen Glaubens durch das Zeugnis einzelner Christen berichtet, die ihren Mitmenschen in Krankheit und Not die christliche Botschaft bringen, die ihnen Heilung, Trost und Hoffnung vermittelt. Ein besonderes Glaubenszeugnis ist der Bericht über die hundertjährige Nonne Zhang Yinxian (232–253), die von der Verfolgung der Christen in Dali berichtet und von dem Hungerstreik, den sie mit ihrem Onkel, Bischof Liu und einer Tante, die Ordensschwester war, ausgehalten hat, um auf die Behörden Druck zu erzeugen, damit ihnen ihre Heimatkirche zurückgegeben wurde und sie wieder darin Gottesdienste feiern konnten. Im Bericht von Liu Shengshi (254–273) wird die Situation von Katholiken in der Untergrundkirche beschrieben, die sich klar von der von der Regierung anerkannten »Katholischen Patriotischen Vereinigung« distanzierten und daher vielen Repressalien ausgesetzt waren. Das Schicksal von Yuan Fusheng (274–317), der als protes­tantischer Christ und Pastor sich weigerte, in der »Drei-Selbst-Bewegung« mitzumachen und deshalb mehr als 21 Jahre im Ge­fängnis war, beschreibt sehr eindringlich, aus welchen Gründen sich chinesische Christen der Zusammenarbeit mit den staatlich anerkannten religiösen Organisationen verweigerten und welchen Preis sie dafür zu zahlen bereit waren.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass L. mit diesen Berichten ein eindrucksvolles Zeugnis über die Situation der chinesischen Christen gegeben hat, die sich der Zusammenarbeit mit den staatlich anerkannten kirchlichen Organisationen verweigern und dafür verfolgt werden. Seine Sympathie für das Leben und die Geschichten dieser Christen ist offensichtlich. Allerdings wird auch deutlich, dass L. bei aller Empathie persönlich kein Christ ist und mit den Unterschieden in der Terminologie in der katholischen und der protestantischen Tradition nicht vertraut ist.
So spricht er ständig von »Priestern« in der protestantischen Kirche, wo es »Pas­tor« oder »Pfarrer« heißen müsste. Bei den »Priesterehepaaren« (20.30) sind wohl »Pastorenehepaare« gemeint und bei den »Priesterseminaren« (30.32) handelt es sich um protestantische »Predigerseminare«. Auch gibt es bei den Protestanten keine »Messen« (42.60.154 u. passim), wohl aber »Abendmahlsfeiern« oder einfach »Gottesdienste«. »Diözese« (76.94.156) wie auch »Bistum« (152) gibt es in der katholischen Kirche, ein protestantischer Presbyter lebt dagegen in einem »Kirchenkreis«. Die »Kutte übernehmen« (85) gilt für einen katholischen oder buddhistischen Mönch, nicht aber für einen protestantischen Pfarrer, der auch kein »Priestergewand« (155), sondern wohl einen »Talar« trägt. Der Übersetzer Hans Peter Hoffmann ist Sinologe, aber offensichtlich kein Fachmann für das Christentum in China, der etwas Ordnung in den Gebrauch katholischer und protestantischer kirchlicher Terminologie hätte bringen können. Die Reportagen L.s hätten gewonnen, wenn dem Buch eine knappe Darstellung der Situation der Christen in der VR China vorangestellt worden wäre, in der nicht nur die Christen aus dem Untergrund, sondern auch die Motive der Christen, die sich für eine Zusammenarbeit mit den staatlichen Religionsbüros entschieden haben, zu Wort hätten kommen können.