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Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

60-63

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Zumstein, Jean

Titel/Untertitel:

L’évangile selon saint Jean (1–12).

Verlag:

Genève: Les Editions Labor et Fides 2014. 423 S. = Commentaire du Nouveau Testament, IVa. Deuxième série. Kart. EUR 45,00. ISBN 978-2-8309-1463-4.

Rezensent:

Johannes Beutler

Vor sieben Jahren hat Jean Zumstein bereits den zweiten Band dieses gründlichen Kommentars zu den Kapiteln 13–21 des Johannesevangeliums vorgelegt. Ihm waren mehrere Bände vor allem zum Johannes- und zum Matthäusevangelium vorausgegangen. So kann Z., inzwischen emeritierter Professor der Exegese des Neuen Testaments an der Universität Zürich, auf ein langes Forscherleben zurückblicken, dessen Ernte nun eingebracht wird. Z.s Kommentar zum Johannesevangelium stellt eine Bereicherung der Johannesforschung dar, und es ist zu begrüßen, dass das umfangreiche und originelle Werk nun auch auf Deutsch erscheinen soll.
Wie ist der Kommentarband aufgebaut? Am Anfang steht eine zehnseitige Bibliographie (9–18), die in die wichtigste konsultierte Literatur einführt. Eine nachhaltige Rolle spielen hier die Kommentare, die Z. auch laufend in seine Exegese einbezieht. Hinzu kommen umfangreiche Literaturangaben zu den einzelnen Ab­schnitten, die den Lesern zur Vertiefung helfen können. Auf die Einleitung in das Johannesevangelium (19–44) folgt die Auslegung der Kapitel 1–12 des Evangeliums. Mit R. Bultmann, auf dessen Kommentar (1941) häufig verwiesen wird, überschreibt Z. die Kapitel Joh 1–12 (bei Bultmann 2–12) »Die Offenbarung der Herrlichkeit Christi vor der Welt«. Auf eine weitere Unterteilung in größere Hauptteile wird verzichtet. Dies hängt auch damit zusammen, dass Z. eher thematisch als nach räumlichen oder zeitlichen Gesichtspunkten gliedert. Man kann in Joh 2–4 eine Bewegung Jesu vom Zentrum des jüdischen Glaubens, Jerusalem und Judäa, an die Peripherie, d. h. über Samaria nach Galiläa beobachten, was aber eher beiläufig erwähnt wird (174). In Joh 5–10 scheinen die Pilgerfeste eine gliedernde Rolle zu spielen, was von Z. vor allem für das Laubhüttenfest von Joh 7 und das Fest der Tempelweihe von Joh 10,22 gesehen wird. Am Schluss bildet das letzte Paschafest Jesu in Jerusalem ab Joh 11,55 den Rahmen für den Heimgang Jesu. Die Auslegung der einzelnen Abschnitte gliedert Z. in »Analyse«, »Auslegung« und »Schlusszusammenfassung«. Die Beziehung zur Leserschaft wird innerhalb der Textauslegung immer wieder hergestellt und dies nicht eigens noch einmal in der Zusammenfassung thematisiert.
Wo steht der hier vorgelegte Kommentar literarisch? Schon in der Einleitung (26–30) wird auf die Schwierigkeit hingewiesen, Quellen- und Schichtentheorien wirklich nachzuweisen. Am ehesten behauptet sich noch die Annahme einer vorjohanneischen »Zeichenquelle«, auf die Z. auch im Laufe des Textes immer wieder verweist, doch auch diese Hypothese ist nicht zu allgemeiner Anerkennung gelangt. So setzt sich in der letzten Zeit immer stärker die Annahme durch, das Vierte Evangelium greife auf die ersten drei Evangelien zurück. Diese Annahme wird auch von Z. geteilt (30–32). Freilich wird aus Johannes damit kein »vierter Synoptiker«, sondern er bezieht sich in sehr freier Form auf Texte der ersten drei Evangelien und interpretiert sie radikal neu.
Im Übrigen greift der Vierte Evangelist auf Traditionen unterschiedlichster Art zurück (34–37). Neben frühchristlichen sind es vor allem alttestamentliche und frühjüdische aus dem palästinischen und hellenistischen Judentum. Auch rein griechisch-römische Motive und Literaturformen können eine Rolle spielen, nicht nur bei der Geschichte von der Hochzeit von Kana. Gnostische Texte sieht Z. eher nicht hinter dem Text des Vierten Evangeliums, schon aus dem Grunde, dass diese so gut wie durchweg jünger sind als das Evangelium des Johannes. Sie gehören also eher in die früheste Rezeptionsgeschichte. Mit dieser Sicht wird Z. der heutigen Forschungslage gerecht und lässt ältere Entwürfe hinter sich.
Charakteristisch für die Johannesexegese von Z. ist die Annahme einer »relecture« von Texten durch andere Texte innerhalb des Johannesevangeliums (30). In der zweiten Hälfte des Evangeliums sind solche Beispiele weitgehend anerkannt, nur dass es sich bei Z. nicht um die Beziehung von Autoren, sondern um eine solche von Texten zueinander handelt. In Joh 13–21 sind solche »sekundären Texte« nach verbreiteter Auffassung und auch nach Z. Joh 15–17 und Joh 21. Innerhalb der ersten Hälfte des Evangeliums nimmt Z. »relecture« schon im Prolog (Joh 1,1–18), dann in Joh 3,31–36 und 12,44–50 (doppelter »Epilog« nach größeren Abschnitten) an. Hinzu kommen Texte wie Joh 5,28–29 (194) und Joh 12,24–26 (397). Hier wird man vorsichtiger sein. Im ersten Fall könnte auch mit Jörg Frey eine Komplementarität von Gegenwarts- und Zukunftseschatologie angenommen werden, im zweiten ist Vorsicht vor der Gefahr geboten, paulinische Kategorien (wie den Gegensatz von »Gesetz« und »Evangelium« und damit von menschlicher Tätigkeit und im Glauben angenommenem göttlichen Heilshandeln) in Jo­hannes einzutragen. Wenn Z. in Joh 10,7–18 (337) gleichfalls eine »relecture«, in diesem Falle der Rätselrede von Joh 10,1–6 annimmt, dann geschieht dies freilich nicht im Sinne einer »kirchlichen Redaktion«, die erst sekundär die ekklesiologische Dimension in den Text hineingebracht hätte, sondern als Entfaltung dieser Di­mension, die schon in der Textvorlage angelegt war.
Noch in der Bultmanntradition hält Z. den Abschnitt Joh 6,52–59 für eine »eucharistische Parenthese«, also letztlich sekundär und eine »relecture« unter sakramentaler Sicht (233–238). Mit guten Gründen hält er den eucharistischen Sinn des Abschnitts aufrecht, trotz gelegentlicher Bestreitung. Auf der anderen Seite hält ein Großteil der heutigen Johannesforschung an der Einheitlichkeit des Kapitels fest. Dies kam u. a. im Johannesseminar der »Studiorum Novi Testamenti Societas« zutage, dessen Beiträge Z. unter Culpepper, R. A., Critical Readings of John 6, Leiden 1997, zitiert. Der Rezensent hat deswegen zuletzt in seinem Kommentar »Das Johannesevangelium« (Freiburg i. B. 2013, 204–233) vorgeschlagen, das ganze Kapitel als eine »relecture« seines Kontextes anzusehen. Der eucharistische Abschnitt wäre dann ebenso nachgetragen wie die ganze Abfolge Mk 6,30–8,33, mit einer positiven Rolle des Petrus und von »Juden« außerhalb Judäas nur an dieser Stelle (Joh 6,41.52). Das Paschafest von Joh 6,4 wäre dann eine christliche Neuinterpretation des jüdischen Pascha als Pilgerfest an den anderen Stellen.
Doch jetzt zur Theologie des Vierten Evangelisten in der Sicht Z.s. In sie wird bereits in der Einleitung des Kommentars eingeführt, und sie tritt dann durchgängig bei der Interpretation der einzelnen Texte und Abschnitte zutage. Zentrales Thema des Johannesevangeliums ist nach Z. die Christologie. Sie durchzieht und prägt das Evangelium von Anfang bis Ende. Schon nach der Einleitung lassen sich hier zwei Aspekte unterscheiden; die »Christologie der Inkarnation« (40 f.) und die »Christologie des Gesandten« (41 f.). Von besonderem Interesse ist die Letztere. Wie vor allem bei der letzten großen öffentlichen Rede Jesu im Tempel in Joh 10,22–39 deutlich wird, sind Jesus und der Vater eins (vgl. Joh 10,30). Freilich möchte Z. diese Einheit funktional sehen im Sinne der Sendungs­christologie und ausdrücklich nicht metaphysisch, denn ein solches Verständnis führe zum Ditheismus (357). Hier sind sicher Rückfragen erlaubt. Die Theologie der Kirchenväter des 2.–5. Jh.s, die zu den Entscheidungen der großen Konzilien von Ephesus (325 n. Chr.) bis Chalkedon (451 n. Chr.) führte, hatte gerade zum Ziel, die Einheit Jesu mit dem Vater so auszudrücken, dass sie zur Einheit im Wesen in zwei Personen führte, aber nicht zu zwei Gottheiten.
Z. spricht bereits in der Einleitung von einem »christologischen Monotheismus« (42). Der Ausdruck erscheint gut gewählt. Er wahrt einerseits, auch im Blick auf Israel, den biblischen Monotheismus, modifiziert ihn aber, indem er in Jesus, dem »Gesandten« Gottes, dessen vollgültigen Ausdruck sieht. Durchweg spürt man im Kommentar von Z. das Bemühen, die Sensibilität des Judentums gegenüber den christologischen Aussagen des Johannesevangeliums ernst zu nehmen. Dies gilt auch und besonders in der Auslegung des problematischen Abschnitts Joh 8,31–59 mit der Bezeichnung der »Juden« als »Teufelssöhne« in Joh 8,44 (293–309). Die Härte der Auseinandersetzung ist nur zu verstehen auf dem Hintergrund von Auseinandersetzungen um das johanneische Kerygma zur Zeit der Niederschrift des Vierten Evangeliums. Um diese Zeit war der Bruch zwischen Judentum und christlich-johanneischer Gemeinde wohl schon vollzogen. Der Sprachgebrauch des Vierten Evangeliums war freilich unglücklich und hat sich im Laufe der Geschichte verhängnisvoll ausgewirkt, wie Z. ausdrücklich anmerkt (309).
Anders als in der Bultmannschule hat Z. keine Hemmungen, auch dem Vierten Evangelisten eine Lehre von Gemeinde und Kirche zuzuschreiben. Dies geschieht im Abschnitt der Einleitung »Soteriologie und Ekklesiologie« (42 f.) und wirkt sich dann auch im Kommentar aus, wie oben bereits zu Joh 10,7–18 angemerkt wurde. Dabei ist die Kontinuität zum Gottesvolk Israel festzuhalten. Zu Joh 5,42–44 verweist Z. mit Recht mit der französischen ökumenischen Bibelübersetzung (TOB) auf das »Hauptgebot« von Dtn 6,4 f., bei Joh 8,41 f. wäre der gleiche Hinweis möglich gewesen. Weitere Möglichkeiten der Ergänzung gäbe es vielleicht beim Thema des »Gottesknechtes«. Nach Jes 52,13, dem ersten Vers des Vierten Gottesknechtsliedes in der Septuagintafassung, soll der Gottesknecht »erhöht und verherrlicht« werden. Alles spricht dafür, diese Aussage auch hinter dem johanneischen »Menschensohn« zu sehen (vgl. den Exkurs, 118 f.). So würde sich die Verwurzelung der johanneischen Christologie im Alten Testament noch deutlicher erweisen. Kirche und Israel würden einander noch stärker begegnen.