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Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

48-50

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bauspieß, Martin, Landmesser, Christof, u. David Lincicum[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ferdinand Christian Baur und die Geschichte des frühen Christentums.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. X, 440 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 333. Lw. EUR 139,00. ISBN 978-3-16-150809-7.

Rezensent:

Joachim Weinhardt

Die hier versammelten Aufsätze möchten die Frage klären, wie man Baurs »systematisch reflektierten Zugang zur Geschichte« für die gegenwärtige Diskussion geschichtsphilosophischer und his-to­risch-methodologischer Themen in der Theologie fruchtbar ma­chen könne. Eine Rettung von Baurs konkreten materialen Er­gebnissen ist dabei nicht intendiert (V). Freilich kann es nicht in jedem Beitrag gelingen, die Aufgabe einer fruchtbaren Aktualisierung Baurs zu lösen. Daher kann »die Leserin und der Leser« des Buches sich oft nicht nur selbst fragen, »welchen Beitrag Baur für heutige Diskussionen bieten könnte«, sondern sie muss dies auch tun (VI), falls sie von diesem Interesse geleitet ist.
Dessen ungeachtet liegt mit dem Band ein vorzügliches Handbuch zu Baurs Lebenswerk vor. Es ist sowohl unter theologiehistorischem Blickwinkel unbedingt zu empfehlen, und es enthält auch zahlreiche Anstöße, die der aktuellen hermeneutischen und systematischen Arbeit zu einer kritischen Selbstbesinnung verhelfen könnten, angesichts der inzwischen oft recht ausgetretenen Gleise des kritischen Traditionalismus.
Die ersten drei Beiträger entwickeln B.s theologisches Profil im Vergleich mit je einer zeitgenössischen Bezugsperson, und zwar mit David Friedrich Strauß (Ulrich Köpf: FCB und David Friedrich Strauß, 3–51), mit Johann Adam Möhler (Notger Slenczka: Ethische Urteilsbildung und kirchliches Selbstverständnis […], 53–71) und mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel (Martin Wendte: FCB: ein historisch informierter Idealist eigener Art, 75–88). Baurs Verhältnis zu Strauß, Hegel und Kant wird hier sehr trennscharf herausgearbeitet. – Mit dem Einfluss Hegels und Kants auf Baur beschäftigen sich auch andere Autoren des Bandes, was anhand des Stel-len-, Personen- und Sachregisters leicht nachverfolgt werden kann.
Der Hauptteil des Buches entwirft historische und exegetische Perspektiven auf Baurs Darstellung von neutestamentlichen Autoren und Themen: David Lincicum: FCB and the Theological Task of New Testament Introduction (91–105); Anders Gerdmar: Baur and the Creation oft the Judaism-Hellenism Dichotomy (107–128); Volker Henning Drecoll: FCBs Sicht der christlichen Gnosis und der zeitgenössischen Religionsphilosophie (129–160); Christof Landmesser: FCB als Paulusinterpret […] (161–194); Martin Bauspieß: Das Wesen des Urchristentums. Zu FCBs Sicht der synoptischen Evangelien (195–225); Jörg Frey: FCB und die Johannesauslegung (227–258); Robert Morgan: FCB’s New Testament Theology (259–284); Stefan Alkier: Wunderglaube als Tor zum Atheismus […] (285–311); Johannes Zachhuber: The Absoluteness of Christianity and the Relativity of All History […] (313–331).
Drei abschließende Aufsätze gehen den Wirkungen B.s nach – James Carleton Paget: The Reception of Baur in Britain (335–386); Daniel Geese: Die Aehnlichkeit der beiden Meister. FCB und Adolf von Harnack (387–404); Birgit Weyel: FCB und die Praktische Theologie (405–424).
Im Folgenden soll etwas näher auf diejenigen Beiträge eingegangen werden, welche sich der Fragestellung nach Baurs konkreter Relevanz für die gegenwärtige Theologie explizit gestellt haben. Slenczkas Überlegungen laufen darauf hinaus, dass an Baur vor allem die in Luther eingetragene individuelle Subjektivität des Glaubens bedeutend sei, die der Tübinger auch gegen die Autorität des Papsttums und damit gegen Möhler ins Feld geführt habe (56–62.66–69). Die Nutzanwendung dieser Reflexion liegt darin, dass auch der EKD-Vorsitzende Wolfgang Huber nicht als Vertreter des Kollek-tivsubjekts »Evangelische Kirche« sprechen dürfe, sondern nur als christliches Individuum (53–55.74). – Lincicum hält dafür, dass Baur hermeneutische und theologische Aufgaben für die neutestament-liche Einleitungswissenschaft formuliert habe, die auch heute noch gelöst werden müssen, aber nicht mehr auf der Grundlage von Baurs »historically foundationalist […] programme« (104 f.).
Gerdmar will sogar die von Baur bis Hengel gebrauchte Grund-Dichotomie zwischen Judaismus und Hellenismus dekonstruieren. »Hellenistisch« sei in der Apostelgeschichte ein rein linguistischer Begriff (»griechisch sprechen«) und grenze keine Parteien oder Ideologien gegeneinander ab (113–121). Baurs Erhebung des Begriffs zu einer Grundkategorie der Geschichte des Urchristentums müsse daher andere Ursachen haben, die Gerdmar – in lockerem Bezug auf Edward W. Said – im griechisch-türkischen Konflikt (1821–1830) erkennen möchte sowie im nachnapoleonischen Be­gehren der Deutschen nach Freiheit. Hier wurzle der Gegensatz von Freiheit und orientalischer Despotie, damit auch die Baursche Tendenzkritik (122f.). Gerdmar betont »the importance of […] taking off the spectacles« der Tübinger Schule (127).
Drecoll hält Baurs Gnosis-Interpretation für eine »geschichtstheoretisch anspruchsvolle Konzeption«, stellt sich aber die Frage, ob in ihr »nicht letztlich die Auflösung der Kritik liegt und die Geschichtlichkeit der Theologie latent untergraben wird« (160). – Nach Landmesser überformt Baur »das paulinische Denken mit den Mitteln seines Verständnisses einer dialektischen und teleologischen Entwicklung des Geistes in der Geschichte« und lässt »wenig erkennen vom eschatologischen Denken des Paulus«, das schließlich auch in den vier für Baur authentischen Briefen zu greifen sei. Zwar erfasse er »ausdrucksvoll den paulinischen Gedanken der durch den Geist in den Glaubenden und in der christlichen Gemeinde sich realisierenden Freiheit«, doch wie dies gegenwärtig zu entfalten sei, müsse neu geklärt werden (194). – Bauspieß weist darauf hin, dass Baur zu den Fragen vorstoße, »die im 20. Jahrhundert unter dem Stichwort des ›historischen Jesus‹ intensiv diskutiert werden sollten und die heute in geschichtshermeneutischer Wendung wieder neu zur Verhandlung stehen […] Inwiefern es aber sachgemäß ist, das ›Wesen‹ des Christentums in erster Linie aus der Verkündigung Jesu heraus abzuleiten, so dass die entwickelteChristologie lediglich als deren Entfaltung erscheint, diese Frage gilt es nach wie vor kritisch zu diskutieren« (224 f.). – Alkier gesteht Baur größtmögliche intellektuelle Redlichkeit in der Wunderfrage zu (306 f.), sucht aber selbst nach einem komplexeren Realitätsbegriff, der es ermöglichen soll, »den von Naturalismus und Supranaturalismus und auch von Baur geteilten Wunderbegriff der Durchbrechung von Naturgesetzen zu überwinden« (310).
Wer immer sich mit Baur, mit der Geschichte der Exegese oder der theologischen Prinzipienfragen beschäftigen möchte, dem sei dieses Buch angelegentlich empfohlen. Es eignet sich für Studierende ab mittleren Semestern für die Erstbegegnung mit der neueren Theologiegeschichte und für Spezialisten als Dokumentation des gegenwärtigen Standes der Baur-Forschung.